7.Juni 2012

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Brennnessel: Schmetterlinge lieben sie, und früher nutzte man sogar ihre Fasern

Angela Ertz

In den ersten warmen Tagen des Jahres kann man einen erstaunlichen Ausbreitungskampf der Pflanzen beobachten. Einer der regelmäßigen Gewinner dieses Wettlaufs ist die Brennnessel, die bei ausreichender Feuchtigkeit und Stickstoffreichtum durch ihre langen Wurzelrhizome schnell ausgedehnte Bestände bildet. Beliebt ist sie nicht, trotz vieler nützlicher Eigenschaften: Sie ist Futterpflanze für die Raupen von etwa 50 Schmetterlingsarten, wie Kleiner Fuchs, Admiral oder Tagpfauenauge. Brennnesseln sind Grundstoff für eine Spritzjauche zur Schädlingsabwehr, Düngung und Bodenverbesserung. Überdies sind sie reich an Eiweiß, Eisen, Spurenelementen, Phosphor, Stickstoff, Vitamin A und C und auch als Gemüse, Salat oder Tee zu genießen.

Eine weitere, früher wichtige Nutzung der Brennnessel ist dagegen heute fast komplett in Vergessenheit geraten: Die Fasergewinnung.

Im Gegensatz zur Baumwolle, deren Fasern aus den Samenhaaren der Frucht gewonnen werden, liegen die durchschnittlich sieben Zentimeter langen Fasern der Brennnessel in der Bastschicht des Stängels. Die Fasern bestehen zu 86 Prozent aus Cellulose. Bei der Brennnessel sind die Fasern eng an die holzigen Stängelteile gebunden, was die Verarbeitung erschwert und eher etwas raue Textilien als Ergebnis hat. Die bei Lein (Flachs), übliche „Wasserröste“ muss daher bei der Brennnessel durch Behandlung mit Säuren, Laugen oder hohem mechanischen Druck ergänzt werden. Alle Verfahren haben das Ziel, die aus Pektin bestehenden Mittellamellen der Zellen aufzulösen und die Fasern vom restlichen Gewebe zu trennen. Auch biotechnologische Methoden mit Bakterien oder isolierten Enzymen werden angewendet. Bei entsprechender Reinigung erhält man danach aus den Nesseln eine sehr weiche und feine Faser, die zugleich stabiler als Baumwolle ist. Anders als die Schildbürger- Stadträte im Lalebuch, die Salzkörner auf ihre Felder säten, aber statt wertvoller Salzpflanzen nur unerwünschte Brennnesseln ernteten, wurden Brennnesseln als Faserlieferanten bis Anfang des 18. Jahrhunderts tatsächlich großflächig auf Feldern angebaut. Die Nachteile des Vorkommens im Garten sind zugleich die Vorteile des Anbaus auf dem Feld: Die Nesseln sind mehrjährig und gegen Schädlinge weitgehend resistent. Sie bilden dichte Bestände, sodass eine Unkrautbekämpfung unnötig ist. Zur Erinnerung: Die Brennnessel ist in diesem Fall die Nutzpflanze!

In Dänemark

Besonders in Dänemark wurde die Brennnessel im 18. und 19. Jh. intensiv genutzt und zum Teil zu hochwertiger Kleidung verarbeitet. Daher rührt vielleicht auch ihre Hauptrolle in Hans Christian Andersens Märchen „Die wilden Schwäne“. In diesem kann die Königstochter ihre elf in Schwäne verwandelten Brüder nur erlösen, indem sie ihnen aus Brennnesseln, die sie mit bloßen Händen pflückt, Hemden strickt. Letztlich schafft sie nur zehn und ein halbes fertiges Hemd, sodass ihr Lieblingsbruder einen Schwanenflügel statt eines Arms zurückbehält.

Hanf und Lein tauchen zwar nicht in der Pflanzenliste der Aachener Karlsgärten, aber gleich in mehreren Kapiteln des „Capitulare de villis“ Karls des Großen auf, was auf einen Anbau in größerem Maßstab auf den karolingischen Krongütern hinweist. Beide Faserpflanzen wurden schon in der griechischen, römischen und ägyptischen Antike und noch früher in China und Indien zur Textilherstellung genutzt, die Brennnessel allerdings weniger. Im ersten Weltkrieg gab es noch einmal einen großen Forschungsschwerpunkt, der hunderte heimischer Pflanzen auf ihren Gehalt an spinnbaren Fasern untersuchte. Darunter waren etwa heute streng geschützte Pflanzen wie Seidelbast und Schwanenblume. Sogar verschiedene „Nesselfasergesellschaften“ gründeten sich.

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zuletzt bearbeitet am 7.VI.2012