31.März 2016

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Sternenrotz und Teichpflaume: Nostoc schrieb Evolutionsgeschichte

N.N.

Neulich hatte ich wieder einmal einen unappetitlichen Gast im Garten, der sich bei näherem Hinsehen als ausgesprochen interessante Lebensform entpuppte. Eine glibberig-grüne Masse lag da zusammen mit weiteren Artgenossen auf meinem Magerrasen-Beet, etwa so groß wie ein Keks, jedoch nicht flach, sondern krausig aufgeworfen, wie ein nachlässig drappiertes Stück Stoff. Völlig aus dem Nichts war der Blob nach einem Regen aufgetaucht und lag lose auf dem Boden, als habe ihn jemand dort absichtlich deponiert. Zunächst dachte ich an einen Schleimpilz, der auch einen ausgeprägten Bewegungsdrang hat und urplötzlich auftauchen kann, aber da sprach eindeutig die Farbe dagegen. Schleimpilze kennen die Farbe Grün nicht und leuchten stattdessen in orange, gelb, rot oder weiß. Was also war das grüne Glibberwesen? Nun, früher wurde es als Sternenrotz bezeichnet, heute kennt es die Wissenschaft unter dem schönen Namen Nostoc commune. Ehrlich gesagt finde ich, Sternenrotz trifft die Sache besser, aber was die Biologen über Nostoc herausgefunden haben, das ist ziemlich sensationell.

Nostoc ist eine Kolonie von Cyanobakterien und gehört damit zu den stammesgeschichtlich ältesten Lebewesen, die heute noch existieren. Man kann sogar ohne Übertreibung sagen, dass Cyanobakterien die Evolution mehr beeinflusst haben als irgendeine andere Lebensform in der Geschichte der Welt. Um ein Haar wäre das globale Experiment übrigens schiefgegangen, das die Cyanobakterien vor rund drei Milliarden Jahren gestartet haben und das als „die Große Sauerstoffkatastrophe“ in die Lehrbücher eingegangen ist. Die urtümlichen Cyanobakterien waren nämlich die Erfinder der Photosynthese, mit der Sauerstoff freigesetzt wurde (davor basierte die Photosynthese auf dem Element Schwefel). Nun ist Sauerstoff ein starkes Zellgift, und folglich wurde ein Großteil der damals existierenden Lebensformen ausgerottet, bis sich entsprechende molekulare Schutzmechanismen entwickelt hatten. Noch ein zweites Mal wurden Cyanobakterien zum Evolutionsmotor, als es ihnen gelang, sich von einem Fressfeind verschlucken, aber nicht verdauen zu lassen. Stattdessen richteten sie sich in der fremden Zelle häuslich ein und wurden somit zum Vorläufer der Chloroplasten, die bis heute in jeder Pflanze für die Photosynthese sorgen. Sternenrotz hat es also faustdick hinter den Ohren.

Nostoc commune kommt weltweit in allen Klimazonen vor, von Grönland bis in den tropischen Regenwald und selbst in Halbwüsten. Da es ein echter Selbstversorger ist, der nicht nur im übertragenen Sinn von Luft und Liebe lebt, braucht es de facto nur ab und zu genügend Feuchtigkeit, um zu existieren. Und wenn die Feuchtigkeit fehlt, überdauert Nostoc notfalls jahrzehntelang als trockener Cracker. Schädlich ist Nostoc übrigens für niemanden, und wen die Glibbermasse stört, der braucht sie nur beiseite zu räumen. Eine ganze Reihe von Pilzen, Pflanzen und Flechten ist sogar auf die Symbiose mit Nostoc zwingend angewiesen, indem sie die Cyanobakterien insbesondere als Lieferant für biologisch verwertbaren Stickstoff nutzen (nicht zu verwechseln mit den stickstofffixierenden Bakterien der Wurzelknöllchen von Hülsenfrüchten). Und wo wir gerade beim Essen sind: In Japan und Taiwan wird Nostoc commune als Salat serviert.

Ein naher Verwandter ist die Teichpflaume, die genauso aussieht, wie sie heißt, und die nur in sehr sauberen Gewässern zu finden ist. So wird Nostoc auch noch zum wertvollen Öko-Indikator. Ein echter Tausendsassa also, dieser grüne Glibber im Garten und wieder einmal ein schönes Beispiel dafür, dass im Unscheinbaren mehr steckt, als mancher ahnt. Man sieht eben nur, was man weiß.

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zuletzt bearbeitet am 31.III.2016