29.Juli 2010

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Brennnessel: Ein schlechter Ruf und viele nützlichen Eigenschaften

Mechtild Feese


Ein jeder von uns trägt in sich die Erinnerung an schmerzhafte Begegnungen mit der Brennnessel. Wir meiden sie geflissentlich und verbreiten ihren schlechten Ruf, obgleich sie doch eine so außerordentlich wertvolle Pflanze ist, die wir gut in unser Alltagsleben integrieren könnten.

So enthält sie siebenmal so viel Vitamin C wie Orangen und mehr Eiweiß als Soja und wird in letzter Zeit - geadelt durch die haute cuisine – und auch wegen ihres weichen milden Geschmacks immer häufiger als Gemüse, Suppe oder Salat angeboten. Durch die Kochshows im Fernsehen sind die Menschen wieder aufmerksam geworden auf das „exotische“ Gemüse, das schon viele Jahrhunderte auf dem Speiseplan unserer Vorfahren stand. Der Chlorophyllgehalt der Brennnessel ist so groß, dass sie als Ausgangsmaterial zur industriellen Gewinnung des Chlorophylls dient.

Tee und Tinktur

Der Verband der Heilkräuterfreunde wählte die Brennnessel 1996 zur Heilpflanze des Jahres. Als Tee und als Tinktur wirkt das Kraut schleimlösend, blutreinigend und entschlackend und wird zu Frühjahrskuren und als Begleittherapie bei Prostatavergrößerung eingesetzt. In früheren Zeiten galt die Brennnessel auch als Haarwuchsmittel. Nach der Signaturenlehre glaubte man, dass sich die Brennhaare gewiss positiv auf das Wachstum der Haare beim Menschen auswirken würden. Außerdem erhoffte man sich Linderung bei Rheuma- und Gichtschmerzen, wenn man die Kranken mit Brennnesselruten peitschte.

Brennnesseln wurden aber auch als Färbepflanzen benutzt. Mit ihrer Wurzel und Alaun färbte man Wolle wachsgelb, mit ihren oberirdischen Teilen und gewissen Chemikalien konnte man ein kräftiges Grau-Grün erzielen.

Konservierung

Übrigens setzte man die Brennnessel auch als Konservierungsmittel ein, indem man Fleisch, Fisch und Butter in ihre Blätter einwickelte, um sie länger frisch zu halten. Tatsächlich funktionierte diese Methode bis zu einem gewissen Grad, weil Wirkstoffe der Blätter die Vermehrung bestimmter Bakterien verhindern.

Zwei weitere Verwendungsmöglichkeiten seien noch hervorgehoben: in der biologischen Landwirt-schaft spielt die Brennnessel eine bedeutende Rolle. Sie eignet sich vorzüglich als Beifutter zur Ernährung des Viehs, insbesondere der Schweine. Außerdem erhält man ein sehr gutes Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmittel für Feld und Garten, wenn man Brennnesselblätter 2 Wochen in Regenwasser an der Sonne gären lässt. (Allerdings ist der gewerbsmäßige Vertrieb diese Jauche in Frankreich wegen der komplizierten Gesetzeslage verboten.)

Brennnesseln sind zudem die Wirtspflanzen für die Raupen von ca. 50 Schmetterlingsarten, die sich aber untereinander kaum Konkurrenz machen. Zu ihnen gehören der Kleine Fuchs, das Tagpfauenauge, der Admiral und das Landkärtchen und viele andere Insekten, deren Fraßspuren man findet.

Die zweite wichtige Verwendung fand die Brennnessel in der Vergangenheit als Gespinstpflanze. Sie hat Bastfaserzellen von 5-7 cm Länge, somit die längsten Zellen unserer heimischen Pflanzen. Schon früh wurden diese Fasern zu Stricken und Stoffen verarbeitet. Das Nesseltuch, roh oder gebleicht, war ursprünglich ein leichtes Gewebe in Leinwandbindung aus eben diesen Bastfasern und später auch aus Baumwolle oder Chemiefasern, grobfädig „Cretonne“, feinfädig „Kattun“ genannt, was wir aus alten Romanen kennen.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts herrschte Baumwollknappheit, und griff wieder auf die Brennnessel als Rohstoff zurück. Besonders auch im ersten Weltkrieg wurden Nesseln in großem Umfang in der Textilindustrie verarbeitet, wobei als Nebenprodukt auch noch eine gummiartige Substanz, ein Klebemittel, abfiel.

Um 1900 sprach man von Nessel als dem „Leinen der armen Leute“. Noch lange nach dem zweiten Weltkrieg konnte man Nessel – weißlich mit kleinen braunen Pünktchen – als Grundstoff für Laken und Vorhänge kaufen.

Doch was für eine Pflanze ist die Brennnessel? Bei uns gibt es zwei Arten von Urticaceen, d.h. Brennnesselgewächsen von lat. urere=brennen, die große Brennnessel, Urtica dioica, eine zweihäusige, 1,5-2 m hohe Staude, und die kleine Urtica urens, die nur 45-60 cm hoch wird, einjährig und wesentlich aggressiver ist, da sie nur Brennhaare und nicht auch kurze Borstenhaare, wie ihre große Schwester besitzt. Beide haben einen aufrechten (U. dioica unverzweigten) Vierkantstängel. Die länglich zugespitzten, am Grund herzförmigen, gegenständigen Blätter mit grob gesägtem Rand ähneln den Blättern der weißen Taubnessel, Lamium album, deren Blüten wir als Kinder auslutschten. Doch im Gegensatz zu den Taubnesseln haben die Urticaceen lange Brennhaare. Diese sehen aus wie kleine Weinflaschen. Ihr Bauch ist gefüllt mit brennendem Saft (ein Teil davon ist Ameisensäure), der über lange Zeit aktiv bleiben kann, so dass man sich auch an vertrockneten Nesseln verbrennt.

Es muss nicht brennen

Über diesem Bauch sitzt eine seitwärts ausgerichtete, farblose Haarzelle mit verkieseltem, brüchigem Ende. Sie ritzt die Haut auf und bricht dabei ab. Die scharfe schräge Bruchkante wirkt wie die Kanüle einer medizinischen Spritze, durch die Ameisensäure in den menschlichen Körper dringt, und es kommt zu allergischen Reaktionen (Nesselsucht) mit dicken schmerzhaften und juckenden Quaddeln. Als Gegengift hilft der Saft des Breit- und/oder Spitzwegerichs, Plantago, deren Blattrosetten man mit etwas geübtem Auge sofort an jedem Wegrand findet, da er in die Trittrasengesellschaft gehört. Streicht man furchtlos von unten nach oben über die Brennnessel, brechen die Härchen nicht ab, und es kommt zu keinen Verbrennungen.

Die kleinen unscheinbaren grünen Blüten sitzen in lockeren Scheinähren in den Blattachseln. Die männlichen Blütenrispen sind länger als die Blattstiele. Sie blühen von Juni bis September und wer-den von kleinen Insekten oder vom Wind bestäubt. Die Früchte erscheinen als kleine einsamige Nüsschen.

Die Vermehrung erfolgt meistens über Rhizome mit vielen kriechenden Seitensprossen, die Knötchen ausbilden. Aus jedem dieser Knötchen wächst ein neuer Stängel, und so kann die Pflanze viele Quadratmeter mit Brennnesseln bedecken. Nesseln lieben nährstoffreiche Böden. Sie zeigen Stickstoff an und besiedeln Schuttflächen, Ruinen, Wegränder, ja sogar Mauern. Als Pionierpflanze folgt sie dem Menschen in den gemäßigten Zonen bis zu einer Höhe von 3000 m. Nur in Südafrika, auf Kreta und auf den Balearen sowie in arktischen Gebieten gibt es keine Brennnesseln. In den Tropen Australiens und im Regenwald von Neuholland wachsen Nesselbäume, die bis zu 40 m hoch werden und ganz extrem schmerzhafte Verbrennungen verursachen können.

Im Volksglauben verankert

Im Volksglauben sind Brennnesseln auch fest verankert: bei richtiger Anwendung schützen sie vor Blitzen, Hexen und Ungeziefer; sie bewahren Milch und Bier vorm Sauerwerden; sie dienen mit Honig, Pfeffer und Wein versetzt als Aphrodisiakum und Orakelpflanze. Es wird auch empfohlen, an Gründonnerstag Brennnesselgemüse zu essen, damit man im kommenden Jahr vor Geldnot ge-schützt ist; am 1. Januar Brennnesselkuchen zu essen, um sich ein gutes Jahr zu sichern; am Johannistag Brennnesselpfannkuchen zu essen, um gegen Nixen- und Elfenzauber gefeit zu sein …

Ich hoffe, dass Ihnen die Brennnessel nach dem Lesen dieses Exkurses ein wenig sympathischer geworden ist.


 

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zuletzt bearbeitet am 18.X.2010