21.Okt.2010
NATURBEOBACHTER AUS DER REGION
Die Faszination der Samenverbreitung. Von Mohnkapsel, Spritzgurke und Co
Ruth Gestrich-Schmitz
Haben Sie einmal beobachtet, mit welch eleganter Schraubenbewegung Lindensamen durch die Lüfte segeln? Oder wie die Samen der Weißtanne bei einem Windstoß aus den Zapfen geblasen werden und mit einer rasanten Drehbewegung zu Boden gleiten? Die raffinierte Konstruktion ermöglicht diesen Flug. Überhaupt haben Pflanzen ganz ausgeklügelte Methoden entwickelt, ihre Samen zu verbreiten und damit ihren Bestand zu sichern. Wer kennt nicht die kleinen Fallschirme des Löwenzahns, die Kinder so gerne von den Stängeln pusten, für viele Gärtner ein Graus. Oder die vielen kleinen Birkensamen, die nach dem Lüften der Wohnung überall in den Räumen zu finden sind. Dort können sie zwar kaum keimen, aber es zeigt, wie gut die Verbreitung der Samen mit dem Wind funktioniert. Im Laufe der Evolution haben sich regelrechte Spezialisten entwickelt: Es gibt Flugapparate, Schieß- und Schleudermechanismen, Schwimmer, Streudosen oder auch raffinierte Tramper.
Mit dem Wind werden beispielsweise die mit Flügeln ausgestatteten Samen von Esche, Ahorn, Hainbuche oder Linde oder die wie an einem Fallschirm hängenden Samen von Bocksbart, Distel und Löwenzahn auf die Reise geschickt. Beim genaueren Betrachten z.B. einer Eschenfrucht fällt auf, dass der Samen am Ende eines leicht gedrehten Flügels hängt. Damit geraten die Samen in eine rotierende Bewegung und können so als Schraubenflieger mit Hilfe des Windes Entfernungen bis zu 60 m zurücklegen. Es gibt auch Segelflieger unter den Samen: Erle, Birke und Ulme suchen sich auf diese Weise eine neue Heimat. Unterstützung durch den Wind erhalten auch die Samen, die aus ihrer Fruchtkapsel wie aus einer Streudose herausgeschüttet werden. Mohn-Kapseln sind hierfür das beste Beispiel. Der Wind bewegt die Samenbehälter und sorgt so für die Verbreitung der Samen in der Umgebung. Den Gesetzen der Schwerkraft gehorchen Kastanien, Eicheln oder Bucheckern. Sie fallen vom Baum und werden z.B. von Eichhörnchen als Vorrat für den Winter an verschiedenen Stellen vergraben. Diejenigen Samen, die von den Tieren nicht mehr wiedergefunden werden, treiben dann im Frühjahr aus.
Im Vogelkot
Viele Samen sind von einer schmackhaften Hülle umgeben wie die Früchte von Weißdorn, Eberesche, Schlehe, Hagebutte, Holunder, Schneeball und Liguster und sind damit Leckerbissen für Vögel. Die Samen werden meist unverdaut mit dem Kot wieder ausgeschieden und finden oft weit entfernt einen Platz zum Keimen. Besonders auffällig ist dies bei Holunderbeeren, da sie den Vogelkot lila färben.
Sehr „anhänglich“ sind die Fruchtstände von Klette, Karde oder Waldmeister. „Du hängst an mir wie eine Klette“ ist eine bekannte Redewendung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Beim genaueren Betrachten der Fruchtstände fallen die kleinen Widerhaken auf, die sich im Fell vorbeistreifender Tiere verhaken. Will sich das Tier der anhänglichen Frucht entledigen, werden die Samen frei und fallen zu Boden.
Samen oder Früchte, die mit Wasser verbreitet werden, weisen mit Luft gefüllte Räume auf, die das Schwimmen auf dem Wasser ermöglichen. So können sie von der Strömung mitgenommen werden. Beispiele dafür sind Seerose und Kokosnuss.
Manche Pflanzen besitzen einen ausgeklügelten Schieß- oder Schleudermechanismus, um ihre Samen explosionsartig über eine größere Distanz zu verteilen. Einen Schießmechanismus ähnlich wie bei einem Schuss mit einer Schrotpatrone hat die Spritzgurke (Ecballium elaterum), ein im Mittelmeergebiet häufig wachsendes Kürbisgewächs, entwickelt: Bis zur Reifezeit der kleinen, borstigen Gurke baut sich im Inneren ein sehr hoher Turgordruck auf. Wird die Frucht berührt, löst sie sich vom Stängel und das Innere der Frucht mit den Samen wird 10 bis 12 m weit herausgeschleudert. Das Große Springkraut (Impatiens noli-tangere), im Volksmund „Rühr-mich-nicht-an“ genannt, schleudert seine Samen katapultartig in die Umgebung: Bei der geringsten Berührung platzen die reifen Früchte auf und schleudern ihre Samen bis zu 3 m aus der Fruchtkapsel heraus.
Die ausgeklügelten Mechanismen der Samenverbreitung helfen nicht nur den Pflanzen, ihren Bestand zu sichern. Sie waren und sind auch Vorbilder für Entwicklungen in der Technik, der sogenannten Bionik, bei der aus der Biologie abgeleitete Prinzipien für die Entwicklung technischer Anwendungen eingesetzt werden.
Die Bionik
Mit dem Traum vom Fliegen begann die Geschichte der Bionik. Zunächst orientierte man sich am Vogelflug, doch auch Pflanzen wurden erfolgreich als Ideenlieferanten für Flugobjekte genutzt: So entwickelte George Cayley ab 1829 Fluggeräte und Fallschirme nach dem Vorbild der Federflugfrucht des Wiesenbocksbarts. Igo Etrich baute 1903 einen Gleiter nach dem Vorbild der Flugsamen der tropischen Kürbisart Macrozanonia acrocarpa, die mit einer Spannweite von bis zu 20 cm mehrere Kilometer im stabilen Gleitflug zurücklegen können.
Die Erfindung des Salzstreuers verdanken wir wohl dem Botaniker und Mikrobiologen Raoul Francé, der die Mohnkapsel als Streudose ausprobierte. Beeindruckt von deren Zerstäuberwirkung, fertigte er sein eigenes Modell an, das er als "Neuen Streuer" 1920 patentieren ließ und das in seiner schlichten Eleganz heute noch auf vielen Restaurant- Tischen zu finden ist.
Das wohl bekannteste bionische Produkt, bei dem die Natur Modell gestanden hat, ist der Klettverschluss. Dieses Klettprinzip der Hakenborsten war bereits in früheren Zeiten französischen Soldaten bekannt, aus der Not geboren als Knopfersatz („bouton de soldat“). Der Klettverschluss, den der Schweizer Ingenieur George de Mestral 1951 zum Patent anmeldete, findet seither breite Anwendung.
zuletzt bearbeitet am 27.XII.2010