24.Okt.2013

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Wird als Heil- und Gemüsepflanze von vielen geschätzt: die Engelwurz

Karl Josef Strank

In Kräuterkatalogen wird immer auch als Heilpflanze die Engelwurz (Angelica archangelica) angeboten und wer sie als kleine Topfpflanze in den Garten holt, sollte genügend Platz reservieren, denn sie entwickelt sich zu einer ansehnlichen Staude. Im ersten Jahr treibt sie zunächst eine bodenständige Rosette mit sehr großen, dreifach gefiederten, hellgrünen Blättern. Im zweiten Jahr treibt daraus ein Blütenstiel, der bis drei Meter und mehr hoch werden kann. An seinem Ende sitzt eine große Enddolde, mehrere Seitendolden folgen mit zeitlichem Abstand nach.

Doldenstrahlen

Vom Zentrum einer Dolde gehen 20-40 Doldenstrahlen ab, an deren Ende einzelne schirmförmige bis halbkugelige Döldchen stehen. Die zahlreichen, ziemlich kleinen Blüten besitzen einen unterständigen Fruchtknoten, der zur Fruchtzeit in zwei nussartige, abgeflachte, seitlich schmal geflügelte Teilfrüchte zerfällt. Nach der Fruchtreife stirbt die Pflanze ab. Die Engelwurz stammt aus den Gebirgen Skandinaviens und dem nördlichen Sibirien und hat mehrere Unterarten. Die bis zwei Meter hohe Kulturform (var. sativa) hat eine kurze, dicke, durch zahlreiche Nebenwurzeln verzweigte Rübe. Dieser Teil der Pflanze wird verwendet für die auch in der Schulmedizin anerkannten Wirkungen der „Wurzel“ (Radix Angelicae) bei verschiedenen Verdauungsstörungen.

Die wichtigsten Inhaltsstoffe sind aetherische Öle, ferner Kaffeesäurederivate. Nachgewiesen ist die krampflösende Wirkung auf den Magen-Darm-Trakt, die Steigerung der Magensaftsekretion und gallelösende Eigenschaften. Bis heute ist die Engelwurz in den Ländern am Polarkreis eine geschätzte Heil- und Gemüsepflanze. Entrindete junge Stängel und Blattstiele werden als Delik atesse roh verspeist. In Lappland bereitet man aus den jungen Blütendolden und Rentiermilch eine käseartige Speise.

Wegen der Häufigkeit der Wildpflanze und sicher auch wegen der nomadischen Lebensweise einiger nordischer Völker wurde die Art zunächst nicht in Gartenkultur genommen. Dies scheint erst ab dem 12. Jahrhundert der Fall zu sein. Die älteste Erwähnung für Mitteleuropa findet sich im Gothaer Arzneibuch aus der Mitte des 14. Jahrhunderts unter dem Namen „Heiliggeistkraut“. Damals ist die Art in Klostergärten vor allem als Mittel gegen die Pest angebaut worden. Wahrscheinlich ist die Engelwurz auch zu dieser Zeit in Europa zum obligaten Bestandteil des Theriaks geworden. Diesen entwickelte der Leibarzt Neros, Andromachus, als Gegengift, das neben Opium und Vipernfleisch verschiedene Würzkräuter, Wurzeln, Honig und Wein enthielt. Besonders seit der großen Pestepidemie von 1348 galt Theriak als Panazee, als allmächtiges Heilmittel gegen fast alle Krankheiten. Damals bestand der Theriak neben 60 (manchmal bis zu 300!) weiteren, oft wechselnden Zutaten, vor allem aus Opium sowie Engelwurz, Arznei-Baldrian (Valeriana officinalis) und Möhrensamen (Daucus carota).

Die von Karthäusermönchen in Freiburg im Breisgau hergestellte Droge Radix Angelicae Brisgoicae war bis ins 18. Jahrhundert geschätzt. Wichtiges Handelszentrum für Theriak war Nürnberg und noch heute ist der Main Schwerpunkt der verwilderten Vorkommen der Engelwurz. Danach begann der Ruhm des Theriaks zu verblassen. Einen letzten Nachhall hat er in der Naturheilkunde als „Elixier für ein langes Leben“ und als „Schwedenbitter“ gefunden. Wirtschaftlich bedeutender ist heute die Verwendung in Confiserien und Genussmitteln, denn französische Mönche schafften es, aus der ursprünglichen Heilpflanze Süßigkeiten zu zaubern. In Frankreich, aber auch in Österreich werden Stängelstücke kandiert oder als Zutat für Torten verwendet. Zahlreichen Likören verleiht die Engelwurz ihren typischen süßlich-aromatischen Geschmack, zum Beispiel dem Benediktiner oder dem Chartreuse. Dass es sich hierbei um traditionelle Klosterliköre handelt, ist natürlich kein Zufall, erfolgte doch die Kultur der Engelwurz in Mittel- und Westeuropa zuerst in Klöstern. Heute wird dazu allerdings nicht mehr die Pflanze selbst verwendet sondern die konzentrierten aetherischen Öle, die durch Wasserdampfdestillation aus den Pflanzen gewonnen werden.

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zuletzt bearbeitet am 22.XII.2013