21.Jan 2016
NATURBEOBACHTER AUS DER REGION
Flechten sind kapriziöse Anpassungskünstler
N.N.
Flechten sind auf den ersten Blick wenig spannende Zeitgenossen. Als mehr oder weniger unauffällige, krustige Gebilde überziehen sie Dächer, Mauern und Terrassen oder hängen in langen Bärten von alten Bäumen und Sträuchern. Das schadet den Pflanzen übrigens nicht, denn Flechten sind keine Schmarotzer, sondern nutzen nur den Untergrund, um sich festzuhalten. Aber sie können auch anders: Einige produzieren starke organische Säuren, mit denen sie Steine zersetzen, um Mineralstoffe herauszulösen, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Überhaupt sind Flechten Meister der Anpassung und kommen selbst in extrem rauen Klimazonen gut zurecht. Jenseits des Polarkreises sind sie wichtige Biomasseproduzenten und Rentiere oder Karibus würden ohne Flechten im Winter schlichtweg verhungern. Selbst bei Minusgraden können Flechten noch Photosynthese betreiben, was keiner höheren Pflanze gelingt. Dennoch wachsen Flechten ausgesprochen langsam und werden dabei uralt. Selbst unter optimalen Bedingungen, im tropischen Regenwald, haben sie nur wenige Zentimeter Längenzuwachs im Jahr, in der Arktis aber können Kolonien von der Größe eines DIN A4-Blattes einige tausend Jahre alt sein. Die grönländische Landkartenflechte hat sogar bei einem Experiment mehrere Wochen im Weltall überlebt, ohne Schaden zu nehmen.
Farbenprächtige Flechten
Flechten sind sehr vielgestaltig und sie können ausgesprochen farbenprächtig werden. Vor allem sonnenexponierte Arten sind oft intensiv gelb, rot oder orange gefärbt, was nicht nur schön aussieht, sondern auch als UV-Filter wirkt. Die Formen reichen von den flächig wachsenden Krustenflechten über ästige Strauchflechten bis hin zu schattenliebenden Blattflechten und den glibberigen Galertflechten.
Noch mehr Erstaunliches gefällig? Flechten sind gar keine Einzelorganismen, sondern eine perfekte Symbiose aus einem Pilz, einer oder mehrerer Algen und/oder Cyanobakterien. Schon die Kombination der urtümlichen Lebensformen zeigt, dass Flechten entwicklungsgeschichtlich sehr alt sind. Manche Flechten (oder präziser gesagt, die symbiotischen Pilze) haben die Fähigkeit zur geschlechtlichen Fortpflanzung verloren, was neben der geringen Wachstumsrate ein weiterer Grund ist, warum viele Flechten in Deutschland selten geworden sind. Zehn Prozent aller ehemals heimischen Arten gelten mittlerweile als verschollen und die ungeheure Zahl von 300 Arten ist akut vom Aussterben bedroht. Ein ebenfalls wichtiger Grund für den Rückgang war die Luftverschmutzung der 80er Jahre im vergangenen Jahrhundert, als saurer Regen viele Biotope zu regelrechten „Flechtenwüsten“ werden ließ. Flechten mögen im Prinzip hart im Nehmen sein, aber sie passen sich nur schlecht an sich schnell verändernde Lebensbedingungen an. Nach der Einführung der Abgasreinigung haben sich die Flechten zwar wieder stark vermehrt, aber die Zusammensetzung der Biotope hat sich seitdem erheblich verschoben. Viele freigewordene Nischen wurden durch nährstoffliebende, vergleichsweise rasch wachsende Arten eingenommen, stark spezialisierte Arten hatten dagegen das Nachsehen. Es steht nicht gut um die Artenvielfalt der Flechten in Deutschland und die dramatischen Veränderungen werden noch dazu kaum wahrgenommen. Es gibt hierzulande nur eine sehr kleine Gruppe von Flechtenexperten, denn das Bestimmen von Flechten ist eine echte Herausforderung, an der Amateure in der Regel scheitern. Ohne Mikroskop und eine Reihe chemischer Reagenzien lassen sich die Arten kaum sicher auseinanderhalten, auch wenn 2013 nach über 80 Jahren erstmals wieder ein Bestimmungsschlüssel der deutschen Flechten publiziert wurde. Zusätzlich erschwert wird die Sache durch den Umstand, dass je nach Standort ein und dieselbe Art völlig unterschiedlich aussehen kann. Staunen darf man aber in jedem Fall über die kapriziösen Anpassungskünstler.
zuletzt bearbeitet am 31.I.2016