10. Juni 2021

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Scharfer Mauerpfeffer kann Liebende zusammenführen

 Ruth Gestrich-Schmitz

Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie manche Pflanzen an äußerst widrigen Standorten wachsen können. So beherbergen die Mauern alter Burgen eine Vielfalt von Pflanzen, die sich mit den mageren Lebensbedingungen in den Ritzen zufriedengeben.

Im Juni/Juli leuchten in den Spalten zwischen den Steinen der Burg Reifferscheid in der Eifel die goldgelben sternförmigen Blüten des Scharfen Mauerpfeffers (Sedum acre), der auch Scharfe Fetthenne genannt wird. Er gehört zur Familie der Dickblattgewächse (Crassulaceae) und ist in ganz Europa verbreitet. Er liebt sonnige Standorte mit sehr durchlässigen Böden: Mauer-, Felsspalten, Dünen, lichte Kiefernwälder, sandige Ruderalstellen wie Bahndämme oder Steinbrüche, und wächst häufig an Weg- und Straßenrändern direkt an der Teerkante. Der Scharfe Mauerpfeffer wird fünf bis fünfzehn Zentimeter hoch und bildet mit seinen immergrünen, über den Boden kriechenden Sprossen kompakte, gelblich-grüne Rasen. Seine kleinen dickfleischigen Blätter schmecken, wenn man sie kaut, scharf und pfeffrig, eine Eigenschaft, worauf sich sein Name bezieht.

Mit seinen fleischigen, Wasser speichernden Blättern kann er mühelos trockene Perioden überstehen. Dabei hilft eine besondere physiologische Anpassung an trockene Standorte, der Crassulaceen-Säurestoffwechsel. Normalerweise nehmen Pflanzen über die Spaltöffnungen in den Blättern das für die Photosynthese benötigte Kohlenstoffdioxid tagsüber auf. Dickblattgewächse jedoch lassen, um Wasserverlust zu vermeiden, während der heißen Tageszeit ihre Spaltöffnungen geschlossen. Nachts werden sie geöffnet, Kohlenstoffdioxid wird aufgenommen und in Form von Apfelsäure gespeichert. Am folgenden Tag wird das Kohlenstoffdioxid aus der Apfelsäure wieder freigesetzt und steht der Photosynthese zur Verfügung.

Wegen ihres geringen Nährstoffbedarfs und ihrer Trockentoleranz sind der Scharfe Mauerpfeffer und viele andere Sedum-Arten beliebte Steingartenpflanzen. Auch zur Begrünung von Dächern sind sie geeignet. Im Handel findet man etliche Züchtungen mit reizvoll gefärbten Blättern, von Graugrün, Grün, Gelb über Kupferrot bis hin zu einem silbrigen Farbton, und wunderschönen sternförmigen Blüten in den Farben Weiß, Gelb, Rosa und Rot, die je nach Sorte von Juni bis Oktober das Auge erfreuen und gleichzeitig vielen Insekten reichlich Nektar bieten.

Der Scharfe Mauerpfeffer bildet nach der Bestäubung pro Blüte fünf Balgfrüchte, die sich bei Nässe öffnen. Auftreffende Wassertropfen schleudern die feinen Samen heraus, die dann fortgeschwemmt werden.

Wegen seiner sukkulenten Eigenschaften kann der Scharfe Mauerpfeffer ohne Wasser und Nährstoffe noch eine Weile weiterwachsen. Es verwundert nicht, dass man ihn deshalb früher für ein sichtbares Zeichen des Ewigen Lebens hielt und ihm besondere Kräfte zuschrieb. In Süddeutschland hängte man an Fronleichnam Kräuterkränze mit Mauerpfeffer zum Schutz vor Unwettern und Blitzschlag auf. Schon in der Antike wurde der Mauerpfeffer als Heilmittel eingesetzt. Hippokrates nennt ihn als Mittel gegen Schwellungen und Entzündungen. Dioskurides beschrieb vor knapp zweitausend Jahren die ätzende Wirkung des Mauerpfeffer-Saftes bei der Behandlung von Warzen. Verantwortlich für die Wirkung sind vor allem Piperidinalkaloide wie Sedamin oder Sedinin. Oral eingenommen kann der Saft starke Reizungen insbesondere der Schleimhäute, Erbrechen, bei hoher Dosierung Krämpfe, Lähmungen und Atemstillstand hervorrufen. Deshalb sollte man von Selbstmedikation Abstand nehmen.

Was man jedoch ausprobieren kann, ist die Anwendung des Mauerpfeffers als Prophet: Wollten früher zwei Liebende eine Prognose für die Entwicklung ihrer Gefühle haben, pflanzten sie zwei Ableger in eine Mauerritze. Wuchsen die Triebe aufeinander zu, läuteten bald die Hochzeitsglocken.

 

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zuletzt bearbeitet am 27.VII.2021