14.Okt.2010

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Kastanien: Brotbäume armer Leute. Lieferanten für Weinfass und Honig.

Karl Josef Strank

In der Vorweihnachtszeit werden in den Städten, insbesondere in den Einkaufsstraßen oder auf den Weihnachtsmärkten, auf kleinen fahrbaren Öfen Maronen geröstet und in Tüten wie Süßigkeiten angeboten. Der Duft macht hungrig und an kalten Tagen sind die warmen Früchte eine willkommene kleine Zwischenmahlzeit. Gut munden sie auch zu Glühwein.

Den Meisten werden die Kastanien wohl in Erinnerung geblieben sein durch die obligatorischen und unvergesslichen Bastelstunden im Kindergarten oder in der Grundschule, die wohl fast jeder einmal in seiner Kindheit erlebt oder auch erlitten hat, wenn im Herbst mit diesen Früchten und Streichhölzern mehr oder weniger gelungene Kastanienmännchen oder –tierchen angefertigt wurden. Dabei war es unerheblich, ob die Früchte der Rosskastanie oder der echten Esskastanie verwendet wurden. Letztere erkennt man daran, dass sie im Spätherbst in runden Bällen vom Baum fallen, die wie kleine, eingerollte Igel aussehen und mehr oder weniger lange über den Boden rollen oder gleich aufplatzen und 2-3 dunkelbraune hartschalige, breit tropfenförmige Nüsse freisetzen. Die Schalen, in denen die Früchte stecken sind nicht nur für die Kastanie charakteristisch sondern auch für einige weitere heimische Baumarten, die früher zu den sogenannten Cupuliferen, den Becherträgern, gerechnet wurden. Dazu gehörten auch Eiche, Buche und Hasel, was aber nicht mehr der heutigen Systematik dieser Pflanzen entspricht. Die Ähnlichkeit der Fruchtnäpfe verleitete dazu, diese Pflanzen unter die Cupuliferen zu subsummieren. Im Einzelnen bauen sich diese becherartigen Strukturen morphologisch aber sehr kompliziert aus Blättern (und Achsen) unterschiedlichen Organisationsniveaus auf, was bedeutet, dass die Pflanzen diese typische „Fruchthülle“ unabhängig voneinander auf unterschiedlichen Wegen konstruiert haben und deshalb auch nicht über einen gemeinsamen Vorfahren, der diese „Erfindung“ einmal für alle gemacht hat, miteinander verwandt sind.

„Wo´s Keschde gibt …“
Kastanien sind stattliche Bäume, die ein hohes Alter erreichen können. 1000-jährige Bäume in der Schweiz, Nordfrankreich und England belegen die lange Kultur der Kastanien, die von den Römern in Europa verbreitet wurden. Die alten Griechen waren bereits mit der Kastanie vertraut, die sie aus Westanatolien kannten und in ihre damalige Kolonie in Süditalien einführten. Wegen ihres hervorragenden, festen Holzes, das als widerstandsfähiges Stützholz im Weinbau Verwendung fand, verbreitete sich die Kastanie, die Nutzung der Früchte kam später. Daher trifft auch der in der Pfalz häufig zu hörende Spruch „Wo´s Keschde gibt, gibt´s Woi“ den Kern der Sache. Das Weinbauklima mit sehr warmen, luft- und bodentrockenen Tagen kommt den Bäumen sehr entgegen. Größere Bestände der Kastanie finden sich heute bei uns im Elsaß, Schwarzwald, Odenwald und im Pfälzer Wald. Das Hambacher Schloss, die Wiege unserer Demokratie, ist von einem ansehnlichen Kastanienwald umstanden und wird deshalb im Volksmund auch als „Keschdeburg“ bezeichnet.

Den überaus großen Nutzen der Früchte entdeckte man erst später, dann aber umso nachhaltiger, denn sie waren eine Art Versicherung für den Notfall bei Missernten. Sie galten als das „Brot der Armen“. Die größten zusammenhängenden Esskastanienwälder Europas liegen heute im Bergell in der Südschweiz. Vom Mittelalter bis zum Ende des 17. Jahrhunderts lebte die Bergbevölkerung von den Kastanien. Mit der Ernte eines Baumes von 80-100 Kilo überlebte ein Mensch den Winter. Daher durften sich nur so viele Menschen in den Bergdörfern auf Dauer ansiedeln, wie Kastanienbäume in den Gemeindewäldern gepflanzt waren oder wurden.

Inzwischen haben Kartoffeln und Mais die Kastanien vom Speiseplan verdrängt und diese zum Schweinefutter verkommen lassen; die ausgedehnten Selven in diesen Alpentälern blieben dennoch erhalten. Die Schweizer Regierung klassifizierte sie als schutzwürdige Landschaft von nationaler Bedeutung.

Flocken, Kuchen, Nudeln
Die Verarbeitung der Kastanie zu Mehl, Flocken, Nudeln, Marmelade, Brot oder Kuchen kommt wieder in Mode. In den Bergeller Gemeinden Castasegna und Soglio werden in den Läden entsprechende Produkte als regionale Spezialität angeboten. Ein einfaches, aber typisches, Bergeller Gericht ist die „Farüda“, Kastanien in Salzwasser gekocht und mit Sahne und Speck gegessen.

In eigenen steingedeckten Dörrhütten, den Cascine, werden die Kastanien im Herbst sechs Wochen lang über kleinen Feuern, die Tag und Nacht in Gang gehalten werden, gedörrt. Der Tag des Dreschens Ende November gerät zum wichtigen gesellschaftlichen Ereignis der Dorfgemeinschaft. Dann werden die Kastanien zum „Singen“ gebracht, wenn sie in langen Säcken auf Holzblöcke geschlagen werden, um die trockenen Samenschalen zu entfernen. Den Abend dieses arbeitsreichen Tages feiern alle hungrigen Helfer vor den Dörrhütten mit Kastaniengerichten, Bergkäse, Salami und gutem Rotwein.

Die Edelkastanien liefern aber noch ein anderes, interessantes Nebenprodukt, an dem nicht unwichtige Nutztiere unserer Kulturlandschaft beteiligt sind, die Bienen. Sie sammeln den Nektar nicht nur aus den Blüten, sondern auch aus sogenannten extrafloralen Nektarien, die sich auf den Blättern befinden, und aus Honigtau, den Läuse produzieren, die auf diesen sitzen, Blattsaft saugen und Zuckerwasser ausscheiden. Edelkastanienhonig ist in der Farbe rotbraun, etwas bitter im Geschmack. Er ist kräftig, herb und duftet nach Kastanienblüten. Er kristallisiert nur langsam und bleibt daher im Gegensatz zu anderen Honigen lange flüssig. Sortenreiner edler Kastanienhonig ist – abgesehen davon, dass er gesund ist - ein auserlesenes Geschmacksvergnügen.


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zuletzt bearbeitet am 27.XII.2010