8.Sept.2011

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Die Herbstzeitlose: Sie macht alles anders – und gibt viele Rätsel auf.

Karl Josef Strank

In diesen Tagen erscheinen zwischen den Grashalmen auf feuchten Wiesen einzelne rosafarbene Blüten mit einer langen Röhre und blühen einige Tage, bis sie vergehen. Sie erinnern an den Krokus, der aber bekanntlich sehr früh im Jahr blüht und sich oft schon aus dem Boden wagt, wenn noch Schnee liegt. Zudem erscheint er zusammen mit seinen langen schmalen Blättern; bei den rosa herbstlichen Blüten sind aber beim besten Willen keine dazu passendes Blätter zu finden, sie erscheinen einsam und alleine.

Verfolgt man die Blüten und gräbt sie aus, stößt man in einiger Tiefe auf eine Knolle, aus der sie entspringen. Die Knolle ist ganz schwarz und sieht ebenfalls etwas merkwürdig aus, als hätte sie einen Buckel. In der Antike und im Mittelalter deuteten die Menschen diese „Signatur“ als einen von der Gicht deformierten Fuß und benutzten die Pflanze als Mittel gegen Gicht. Sie bekämpft zwar nicht die Ursachen der Krankheit, lindert aber die Schmerzen.

Diese ungewöhnliche Pflanze heißt Herbstzeitlose und hat die Vorstellungkraft des Volkes enorm beflügelt, was ihre vielen regionalen Namen belegen, die alle etwas über ihr Wesen aussagen. Als herbstliche Pflanze, die den Winter ankündigt, heißt sie Michaelisblume, Herbstschneeblume oder auch Grummetsblume, da sie nach der letzten Heuernte (Grummet) erscheint. Da sie bitter schmeckt und giftig wie Galle ist, heißt sie Galleblume, aber auch weil sie um den Sankt-Gallus-Tag, am 16. Oktober, blüht.

Im bäuerlichen Jahreskreis kündigte die Herbstzeitlose die winterliche Arbeit des Garn- und Tuchmachens an. Vielerorts bezeichnete man sie aber als „Nackte Jungfer“, „Nackte Maid“, „Nackte Hur“ oder „faule Grete“, die zu faul ist, ihre Blöße mit einem Blätterkleid zu bedecken, wie das alle anständigen Blumen tun. Sie wurde daher zum Symbol der Unkeuschheit. In Sankt Gallen streute man in der Mainacht Mädchen zweifelhaften Rufes die klappernden, reifen Fruchtkapseln – Hundshoden oder Pfaffensäcke genannt – vor die Tür.

Erscheinen die Blüten zur herbstlichen Tagnachtgleiche, wenn kaum noch Bestäuber anzutreffen sind, und die Pflanze folglich gezwungen ist, sich selbst zu bestäuben, so erscheinen die Blätter mit den reifen Samenkapseln zur Tagnachtgleiche im Frühling ebenfalls zur Unzeit für Früchte, denn „normale“ Pflanzen fangen da erst an zu wachsen, geschweige denn zu fruchten. Die Herbstzeitlose macht alles anders und gibt Rätsel auf. Dass die Pflanze magische Kräfte und einen mächtigen Zauber besitzt, davon waren die Menschen seit Urzeiten überzeugt. Wenn im Mai ihre Blätter welken und verschwinden, glaubte man, die Hexen hätten sie in der Walpurgisnacht als Salat verspeist.

Die Herbstzeitlose scheint die Sonne regelrecht zu meiden und man erwartet fast, dass die Pflanze giftig ist, was in der Tat der Fall ist. Sie enthält zwanzig verschiedene Alkaloide; Knollen, Blätter Blüten und insbesondere die Samen sind äußerst giftig. Die tödliche Dosis sind fünf Samen! Das Hauptgift Colchizin hemmt das Wachstum der Zellen. Es unterbindet die Trennung der Chromosomen nach einer Zellteilung ebenso wie die Bildung neuer Zellwände. Wegen der verheerenden Nebenwirkungen eignet es sich dennoch nicht zur Tumorbehandlung. Durch Colchizinbehandlung und die Verdoppelung des Chromosomensatzes sind aber viele ertragreiche Nutzpflanzensorten gezüchtet worden.

Die alten Griechen bezeichneten die Herbstzeitlose als Euphemeron, „das in einem Tag Tötende“ oder als „Feuer der kolchischen Medea“. Das Gewächs entstammt dem Garten der Hekate, der dreiköpfigen Hexengöttin, der in Kolchis am Schwarzen Meer lag, wo auch Weißer Germer, Oleander, Tollkirsche, Schierling, Fingerhut und andere Giftpflanzen wuchsen. Medea, Schülerin der Hekate, verliebte sich leidenschaftlich in den Argonauten Jason, der auf der Jagd nach dem Goldenen Vlies, die kolchischen Gestade betrat. Die zauberkundige Medea schläferte mit einer Mixtur ihrer Kräuter den Drachen ein, der das Vlies bewachte und verhalf den Argonauten ob des dreisten Raubes zur Flucht.

Odysseus, den Held des trojanischen Krieges, verschlug es mit seinen Gefährten auf der Heimfahrt nach Ithaka auf die Insel der Kirke, Nachfahrin der Medea. Diese „bezirzte“ ihn und verwandelte seine Gefährten in Schweine. Um sich vom Zauber zu lösen, schickte ihm Hermes das sagenhafte Krau t Moly, von dem Homer sagt: „Schwarz war die Wurzel, weiß wie Milch war die Blüte.“ Einige Botaniker vermuten, dass die Herbstzeitlose den Bann der Kirke gebrochen hat.

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zuletzt bearbeitet am 17.IX.2011