25.Juli 2013
NATURBEOBACHTER AUS DER REGION
Auf dem halben Weg zum Schmarotzer: die Kleinblättrige Stendelwurz
Joachim Schmitz
Mykorrhiza ist ein im Pflanzenreich weit verbreitetes Phänomen. Damit bezeichnet man den physiologischen Kontakt von Bodenpilzen mit Pflanzenwurzeln. In der Regel wird das als Symbiose gedeutet, das heißt sowohl der Pilz wie die Pflanze ziehen wechselseitig Vorteile daraus. Besonders wichtig ist die Mykorrhiza bei Orchideen. Da Orchideensamen staubfein sind, können sie vom Wind kilometerweit vertragen werden. Das schaffen sie aber nur, weil sie auf jedes Speichergewebe verzichten. Sie haben also weder Stärke (wie Getreidekörner) noch Öl (zum Beispiel Erdnuss) oder sonst eine Energiereserve dabei. Deshalb sind sie darauf angewiesen, dass sie in Kontakt mit einem Pilz kommen, von dem sie in der ersten Keimungsphase ihre Nährstoffe beziehen.
Das ist auch der Grund, warum Orchideen früher als extrem exklusiv galten. Man konnte sie nicht ziehen, sondern musste sie immer wieder aus exotischen Klimazonen importieren, was den Preis für eine Orchideenblüte im Knopfloch auf exorbitante Höhen getrieben hat. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts ist dieser Zusammenhang richtig erkannt und erforscht worden. In der Folge sind künstliche Nährböden entwickelt worden, auf denen Orchideensamen auch ohne ihren Pilz keimen können, und heute bekommt man exotische Orchideen in jedem Baumarkt mit Gartenabteilung für ein paar Euro.
Die meisten tropischen Orchideen, zu denen fast alle bei uns als Zierpflanzen kultivierte Arten gehören, sind als erwachsene Pflanzen nicht mehr von ihrem Pilz abhängig. Deshalb sind sie auch von Laien vergleichsweise einfach zu halten. Ganz anders verhält es sich mit den ca. 60 mitteleuropäischen Orchideenarten. Sie bleiben alle mehr oder weniger zeitlebens von ihrem Mykorrhizapilz abhängig. Passiert irgendetwas, was den Mykorrhizapilz schädigt, sind auch sofort die Orchideen weg.
Ein gutes Beispiel
Wie sich das Verhältnis von Pilz und Pflanze im Laufe der Evolution verschieben kann, kann man an der Gattung Stendelwurz (Epipactis) besonders gut demonstrieren. Die Typusart Sumpf-Stendelwurz (Epipactis palustris) verhält sich wie ihre tropischen Schwestern und ist als ausgewachsene Pflanze völlig unabhängig von einem Pilz. Die Breitblättrige Stendelwurz (Epipactis helleborine im weitesten Sinn) bleibt mit dem Mykorrhizapilz zeitlebens verbunden. Es ist eine unserer häufigsten Orchideen, die nicht nur in Wäldern sondern auch in Parks, auf Friedhöfen (Aachen-Ostfriedhof!) und weiteren Grünanlagen vorkommt. Offensichtlich kommt ihr Mykorrhizapilz häufig vor und ist auch nicht so empfindlich gegen menschliche Eingriffe, etwa die Überdüngung durch Hundekot. Einen Schritt weiter geht die Violette Stendelwurz (Epipactis purpurata). Sie hat kleinere Blätter, die auch weniger Blattgrün haben, so dass das Aussehen dem Namen entsprechend ins Violette spielt. Auch die späte Blütezeit von August bis September zeigt, dass sie ihren Stoffwechsel nur noch zum geringen Teil über die eigene Fotosynthese bestreitet, sondern überwiegend ihren Mykorrhizapilz anzapft. Dadurch verschafft sie sich einen Konkurrenzvorteil gegenüber Pflanzen, die nur Fotosynthese machen und deshalb nicht so tief in den Waldschatten vordringen können. Das bedeutet, dass die ursprüngliche Symbiose zwischen Pilz und Pflanze zu einem Verhältnis wechselt, bei dem zunehmend die Pflanze die größeren Vorteile hat.
Noch weiter in den Schatten schafft es die abgebildete Kleinblättrige Stendelwurz (Epipactis microphylla). Die Blätter sind nur wenige Zentimeter lang, so dass es auch dem Laien sofort einleuchtet, dass das für den Energiestoffwechsel der Pflanze nicht reichen kann. Hier kippt das symbiontische Verhältnis endgültig in ein parasitisches Verhältnis um, wobei diesmal die Pflanze der Parasit und der Pilz das Opfer ist. Den Endpunkt der Entwicklung findet man dann in der eng verwandten Gattung Nestwurz. Die heimische Vogel-Nestwurz (Neottia nidus-avis) hat überhaupt kein Blattgrün mehr und lebt nur noch auf Kosten ihres Mykorrhizapilzes. Deshalb kann sie auch noch im absoluten Schatten existieren.
Violette und Kleinblättrige Stendelwurz kommen selten, aber anscheinend noch ungefährdet in den Kalkmulden der Eifel vor. Auch im Süden des Stadtgebiets Stolberg gibt es ein aktuelles Vorkommen beider Arten. Das in der Literatur erwähnte Vorkommen der Kleinblättrigen Stendelwurz im Augustinerwald (Aachener Stadtwald) ist wohl erloschen.
zuletzt bearbeitet am 26.VIII.2013