21.Aug.2014

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Blumenuhr mit blauen Blüten: Um die Wegwarte ranken sich viele Mythen

Ruth Gestrich-Schmitz

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass manche Blüten trotz strahlenden Sonnenscheins nicht den ganzen Tag über geöffnet sind und ihre volle Pracht entfalten? Der schwedische Naturforscher Carl von Linné nutzte im 18. Jahrhundert diese Beobachtung, um im Botanischen Garten von Uppsala eine Blumenuhr anzulegen mit Blumen, deren Blüten sich zu bestimmten Zeiten öffnen und schließen. Zu dieser Blumenuhr gehört die Gemeine Wegwarte (Cichorium intybus) mit ihren schönen blauen Blüten, die sich bei warmem, sonnigem Wetter bei Sonnenaufgang (daher rührt der lat. Name „sponsa solis“, Braut der Sonne) öffnen und gegen Mittag wieder schließen.

Die Wegwarte wächst an Weg- und Straßenrändern, Schutthalden und Brachen, auf oft kalkhaltigen und stickstoffreichen, trockenen Böden und blüht von Juli bis September. Sie gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae), ist eine ausdauernde Pflanze, die im ersten Jahr eine bodenständige Rosette treibt, deren schrotsägeförmige Blätter an die des Löwenzahns erinnern. Gleichzeitig entwickelt sich unterirdisch eine spindelförmige Rübe. Die Wegwarte treibt im zweiten Jahr einen kantigen, sparrig verästelten Stängel, der in zahlreichen Blütenköpfchen endet. Diese bestehen aus einem Kranz von meist hellblauen, selten rosa oder weißen Zungenblüten. Alle Pflanzenteile führen einen weißen Milchsaft.

Um die Wegwarte ranken sich viele Mythen. Sie galt als Heil- und Zauberpflanze. Sie sollte unverwundbar machen, Fesseln sprengen, Dornen und Nadeln aus Wunden treiben und sogar unsichtbar machen. Wird die Wurzel an Mariä Himmelfahrt geweiht, soll sie wie eine Tarnkappe wirken. Manche Sagen beruhen auf ihrer blauen Blütenfarbe, die die Treue symbolisiert: So soll die Wegwarte eine verwunschene Jungfrau darstellen, die am Wegesrand auf ihren Liebsten wartet. Oder eine Frau, die vergeblich auf die Rückkehr ihres Liebsten aus dem Krieg wartet und in diese Blume verwandelt wird.

Auf Grund ihrer Inhaltsstoffe (Bitterstoffe Lactucin und Lactucopikrin, Kaffeesäurederivate, Cumarine und Flavonoide) ist die Wegwarte ein Tonikum amarum, ein bitteres Anregungs- und Kräftigungsmittel gegen Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen, Leber- und Gallenleiden. Als Heilpflanze hat sie heute allerdings nur noch wenig Bedeutung. Da ihre Wurzel aber einen hohen Gehalt an Inulin aufweist, ist sie für die Industrie interessant: Die aus dem Inulin gewonnene Oligofructose wird als Ballaststoff Jogurts, Käse und Fitness-Getränken beigefügt, die das Wachstum der Bifido-Bakterien im Darm anregt und damit die Funktionen des Verdauungssystems fördern.

Das Inulin ist auch verantwortlich dafür, dass geröstete Zichorienwurzeln zum Ersatzkaffee wurden. Beim Rösten entsteht daraus zum Teil Oxymethylfurfurol, das ein Kaffee-ähnliches Aroma besitzt. In einem mit „Haushaltungskunst im Kriege“ betitelten Kochbuch von 1722 wird der Hofgärtner Timme aus Arnstadt in Thüringen als Erfinder eines Kaffeegetränkes aus Zichorienrüben genannt. Friedrich der Große förderte den Anbau der Wegwarte, weil er die Devisen für den teuren Bohnenkaffee sparen wollte. Es wurde eine Varietät (var. sativum) mit einer besonders fleischigen und schweren Wurzel gezüchtet. Seit der napoleonischen Besatzung wird der Zichorienkaffee im Rheinland als Muckefuck bezeichnet – eine Verballhornung des französischen „mocca faux“, was so viel wie falscher Mokka bedeutet. Da das Koffein fehlt, besitzt der Zichorienkaffee keine anregende Wirkung, ist daher für Herzkranke geeignet.

Ihre Vielfältigkeit zeigt die Wegwarte auch als Gemüse- und Salatpflanze. Die jungen Rosettenblätter dienten früher als Herbstgemüse oder zartbitterer Salat. Um 1870 wurde in Belgien dann der Chicorée gezüchtet, wohl ausgehend von einer Zufallsbeobachtung: Nach einer reichen Ernte wurden überschüssige Zichorienrüben im Gewächshaus eingeschlagen und trieben dabei große, bleiche Knospen. Aus dem Chicorée wurde in Italien der Radicchio rosso gezüchtet, der etwas lockerere, tief anthocyan-rote Köpfe liefert. Die Salatsorten werden unter der Varietät foliosum zusammengefasst. Der etwas bitter schmeckende Endiviensalat (Cichorium endivia) gehört ebenfalls zur Gattung der Wegwarten.

Auch Karl der Große ließ die Wegwarte in seinen Gärten anpflanzen. Im Karlsgarten in Aachen-Melaten kann man zurzeit ihre Blütenpracht genießen.

 

voriger Artikel ← | → nächster Artikel

Auswahl nach Erscheinungsdatum

Auswahl nach Themenstichwort

Startseite

zuletzt bearbeitet am 9.X..2014