24. Mai 2018

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Andorn, eine bittere Medizin, die den Husten löst und den Appetit steigert

Ruth Gestrich-Schmitz

„Soll ich den Andorn besprechen, das wertvolle, kräftig wirkende Kraut. Zwar brennt er scharf im Munde und sein Geschmack unterscheidet sich sehr von seinem Geruch. Er kann jedoch starke Beklemmung der Brust lindern, wenn man ihn als bitteren Trank zu sich nimmt. Sollten die Stiefmütter je feindselig bereitete Gifte mischen, so scheucht ein Trank des heilkräftigen Andorns, unverzüglich eingenommen, die drohenden Lebensgefahren.“ So beschreibt Walahfrid Strabo, Abt des Klosters Reichenau, im 9.Jh. in seinem berühmten „Hortulus“ den Andorn. Die bei uns wenig bekannte Pflanze gehörte von der Antike bis in die Neuzeit zu den wichtigsten Heilpflanzen in Europa. Ein Grund für den Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde an der Universität Würzburg, den Andorn zur Arzneipflanze des Jahres 2018 zu küren und ihre Bedeutung wieder bekannt zu machen.

Bereits zur Zeit der Pharaonen galt die eher unscheinbare Pflanze als Heilmittel bei Atemwegserkrankungen. Der griechische Arzt Dioskorides (1. Jh.) empfiehlt Andorn außerdem bei Ohrenleiden und zur Behandlung von Wunden und Geschwüren. Den Andorn findet man in den Schriften der Klosterheilkunde wie dem „Lorscher Arzneibuch“ (um 800) oder in der „Physica“ der Hildegard von Bingen (12.Jh.). Sie rät: „Aber auch wer Husten hat, der nehme Fenchel und Dill im gleichen Gewicht und füge ein Drittel Andorn bei, und er koche das mit Wein, und dann seihe er es durch ein Tuch und trinke es, und der Husten wird weichen.“

Der Gemeine Andorn (Marrubium vulgare) aus der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae) ist nahe verwandt mit anderen Heilkräutern wie Minze und Melisse. Ursprünglich im Mittelmeerraum beheimatet und vor langer Zeit in Mitteleuropa eingebürgert, kommt er heute jedoch nur noch selten natürlich vor. Er liebt warme, mäßig trockene, nährstoffreiche Böden und wächst an Wegrändern, auf Schutt und Ödland. In geschützten Lagen ist er winterhart. Der Andorn wird bis zu sechzig Zentimeter hoch. Der für Lippenblütler typische vierkantige Stängel ist filzig behaart, genauso wie die Unterseite der rundlich bis herzförmigen Blätter. Von Juni bis September trägt der Andorn in den Blattachseln kugelige Scheinquirle mit weißen Blüten. Für die Nutzung als Heilpflanze erntet man die oberen Teile der blühenden Pflanze. Die Inhaltsstoffe, das bitter schmeckende Marrubiin (0,3 bis 1%,) und weitere Diterpen-Bitterstoffe, Harze, ätherisches Öl sowie Gerbstoffe (etwa 5 bis 7%) sind für die arzneiliche Wirkung verantwortlich. Andorn wird traditionell bei Bronchialkatarrhen, Appetitlosigkeit und Verdauungsbeschwerden eingesetzt. Die Bitterstoffe regen die Magensaftsekretion und auch den Gallefluss an, was für die Fettverdauung förderlich ist. Das ätherische Öl und die Gerbstoffe wirken bei Durchfall. Für die schleimlösende Wirkung bei Husten ist vor allem der Bitterstoff Marrubiin verantwortlich.

Medizin muss ja bekanntlich bitter schmecken, wenn sie wirklich nützen soll. Diese Aussage wird von Forschern aufgegriffen, wenn es um die Wirkung von Bitterstoffen geht: Der menschliche Körper ist mit fünfundzwanzig verschiedenen Bitterrezeptoren ausgestattet, die nicht nur im Mund- und Rachenraum, sondern auch auf der glatten Muskulatur des Bronchialsystems lokalisiert sind. Die Aktivierung dieser Rezeptoren durch die Bitterstoffe bewirkt eine Erweiterung der verengten Bronchien und damit eine verbesserte Sauerstoffaufnahme und erleichterte Schleimentfernung. Eine wissenschaftliche Studie aus den USA weist außerdem darauf hin, dass die gezielte Stimulierung der Bitterrezeptoren das Immunsystem stärken könne.

Zur Schleimlösung bei Husten im Rahmen von Erkältungen werden im Handel Andorn-Tee, Andorn-Bronchialtropfen oder Andorn-Presssaft angeboten. Nicht angezeigt ist die Anwendung während der Schwangerschaft, bei bestehender Herzerkrankung und bei Kindern unter 12 Jahren. Für die Arzneimittel wird Andorn heute vor allem in Osteuropa und Marokko angebaut.

Ob Andorn als Gegenmittel bei Vergiftungen durch Stiefmütter wirkt, wie Walahfrid Strabo schreibt, ist wohl eher zweifelhaft.

 

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zuletzt bearbeitet am 26.VII.2018