6. Dez. 2018

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Rentierflechte stärkt die Zugtiere des Weihnachtsmanns

Karl Josef Strank

Für Kinder in der ganzen Welt verrichtet der Heilige Nikolaus in dieser Nacht Schwerstarbeit. Einige, die seine Leistung mit mathematischer Akkuratesse nachrechnen, kommen zu dem Schluss, dass es unmöglich ist. Aber die machen die Rechnung ohne die fleißigen Helfer, die dem heiligen Mann zur Seite stehen. Unermüdlich und mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit ziehen sie das voll mit Geschenken beladene Schlittengespann über den Himmel, die Rentiere. Sie sind einerseits hervorragend an den Winter angepasst, Frost und Schnee ertragen sie ohne mit der Wimper zu zucken. Darüber hinaus haben sie eine Leibspeise, die ihnen Kraft zur Genüge gibt, die Rentierflechte, Hauptnahrung der Rentiere und in ihrer nordischen Heimat weit verbreitet.

Die Rentierflechte ist wie alle Flechten ein „Kombinationspräparat“ aus Alge und Pilz. Die Alge liefert durch Photosynthese die Energie und der Pilz gibt mit seinem Mycel dem Flechtenkörper die Form und nimmt über seine Fäden Wasser und Mineralstoffe auf. Der Flechtenkörper ist nicht in der Lage, Wasser zu speichern. Bei Trockenheit stellen Flechten alle Lebensprozesse ein und schrumpfen. Bei feuchtem Wetter quellen sie auf, kehren ins Leben zurück und wachsen weiter.

Als Rentierflechten wird eine größere Gruppe von Cladonia-Arten bezeichnet, die alle einen mit feinen Stämmchen strauchigen, mehr oder minder reich verzweigten Vegetationskörper aufweisen und auf dem Boden wachsen. Da sie keine Wurzeln haben, liegen sie dem Boden nur auf, wachsen an der Spitze immer weiter, während der Vegetationskörper von unten langsam verrottet. In dieser Hinsicht verhalten sie sich gleich wie Torfmoose. Beide tragen daher an entsprechend moorigen Standorten zur Torfbildung bei. Die echte Rentierflechte (C. rangiferina) ist grauweiß, hat einen kräftigen Hauptstamm und einseitswendig umgebogene, gebräunte Endverzweigungen, dem Geweih der Rentiere ähnelnd. Die bäumchenförmige Rentierflechte (C. arbuscula) sieht fast gleich aus, unterscheidet sich aber durch die eher gelblichgrüne Färbung. Die Arten der Gruppe sind auch für gute Flechtenkenner schwierig zu unterscheiden, weil sie sehr ähnlich sind und sich oft nur durch die Bestimmung ihrer chemischen Inhaltsstoffe eindeutig identifizieren lassen. Vergleichsweise einfach an der Form ist noch die sternförmige Rentierflechte (C. stellaris) zu erkennen, die durch die sehr feine, dichte und allseitige Verzweigung ein charakteristischen polster- bzw. kissenförmiges Aussehen hat. Da sie in den Alpen über der Waldgrenze in Alpenrosengebüschen häufig vorkommt, hat sie bei uns den Namen Alpen-Rentierflechte. In Schweden wird sie auch als „Fensterflechte“ bezeichnet. Das kommt daher, weil sie früher häufig als Füllmaterial zwischen den Fenstern verwendet wurde, um dort die Feuchtigkeit aufzusaugen. Auch dürfte sie vielen als Schmuck für Trockengestecke, Begräbnis- und Adventskränze und - oftmals eingefärbt - für die Vegetationskulisse von Architekturmodellen und Modelleisenbahnen bekannt sein.

Rentierflechte (hell) und Isländisch Moos (dunkel), wie sie zusammen in den Alpen anzutreffen sind.

Rentierflechten bilden im Norden Europas über weite Gebiete den dominierenden Bodenbewuchs und sind bedeutender Bestandteil der Nahrung der Rentiere. Für Menschen ist die Echte Rentierflechte essbar, schmeckt aber sehr bitter. Sie durch Kochen unter mehrmaligem Wechsel des heißen Wassers zu entbittern, ist sehr empfehlenswert. Als Hungermoos hat sie so in Notzeiten Menschen vor dem Hungertod gerettet. Medizinisch wird sie nicht verwendet, aber häufig mit dem Isländischen Moos, Cetraria islandica, verwechselt, weil sie gemeinsam im gleichen Areal vorkommen. Ein Tee aus Isländisch Moos ist sehr wirksam gegen Erkältungen.

Beide Flechtenarten sind als Winterfutter für Elche, Moschusochsen und Rentiere, die außerhalb ihres Gebietes in Zoos gehalten werden, unentbehrlich. In der Heimat fressen Rentiere bis zu 2 kg. Rentierflechte täglich.

Als kohlehydratreiches Beifutter für Hunde, dem Seehundfett untergemischt wird, findet die Rentierflechte ebenfalls Verwendung. Die Frage, woher nehmen die Rentiere des Nikolaus die Kraft, dürfte damit hinreichend beantwortet sein.

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zuletzt bearbeitet am 27.XII..2018