20. Juni 2019
NATURBEOBACHTER AUS DER REGION
Die Clematis - Liane der heimischen Wälder
Karl Josef Strank
In den Randbereichen unserer Wälder oder in Hecken wächst eine Pflanze, die an Bäumen und Büschen emporrankt. Die Triebe sind anfangs dünn, verholzen aber schnell. Ebenso schnell wächst sie und kann ausgewachsene Bäume überwuchern. Dann bildet sie einen dichten Schleier, hinter dem der Baum, an dem sie emporklimmt, fast verschwindet. Das erinnert an einen langen zottigen Bart, weswegen sie in England auch als ‚Old man’s beard‘ bezeichnet wird. Wir nennen sie die Echte oder Gemeine Waldrebe. Botanisch korrekt heißt sie Clematis vitalba. Mit dem Gattungsnamen verbindet sich aber für viele das Bild einer rankenden, reich blühenden Zierpflanze, die mit vielen Sorten in unseren Gärten vertreten ist.
Wer die mit ansehnlichen Blüten ausgestatteten Gartensorten im Kopf hat, ist von der Echten Waldrebe eher enttäuscht. Deren Blüten stehen zwar zu mehreren in Rispen zusammen, aber bis auf die vier weißen, wie Kronblätter anmutenden Kelchblätter folgen nach innen 40 bis 60 Staubblätter mit breiten weißen Stielen, die halbkugelförmig strahlig angeordnet sind. In der Mitte der Blüte gruppieren sich dann 20 bis 30 einzelne, silbrig-weiß behaarte Fruchtblätter zu einer kleinen Säule. Der Aufbau der Blüten gibt die Zugehörigkeit zu den Hahnenfußgewächsen zu erkennen. Die Blüten bieten keinen Nektar, dienen den Bienen aber als Pollenquelle. Sie sind proterogyn, was bedeutet, dass die Fruchtblätter sich vor den Staublättern entfalten und bestäubungsfähig sind, bevor der Pollen reift, was wiederum Selbstbefruchtung weitgehend ausschließt.
Mehr Aufmerksamkeit als die Blüten erzeugen die Früchte, denn aus jeder gehen zahlreiche bräunliche Nüsschen hervor, die mit fedrig behaarten, bis drei Zentimeter langen Flugorganen ausgestattet sind und vom Wind verbreitet werden. Sie verbleiben den Winter über am Strauch und werden erst im Frühjahr frei.
Die Blätter sind in der Regel fünfzählig gefiedert. Die Fiedern haben eine eilanzettliche Gestalt. Die Stielchen der Fiederblätter und die Mittelrippe (Rhachis) des gesamten Fiederblattes ranken und umwinden die Stützpflanzen entgegen dem Uhrzeigersinn, was als linkswindend bezeichnet wird.
Die jungen Triebe und die unteren Teile der Blattstiele verholzen. In deren Achseln sitzen Knospen. Die Waldrebe ist mehrjährig und die Triebe weisen ein kontinuierliches Dickenwachstum auf. Bei alten Exemplaren der Waldrebe hängen dann schon mal armdicke, tauartige Triebe aus den Kronen der Stützbäume herab. Bei diesem Anblick wird schlagartig klar, dass die Waldrebe in unseren Breiten als alleiniger Vertreter die in den Tropenwäldern häufige Lebensform der Lianen repräsentiert.
Das Holz dieser Triebe ist hellgelb und weist eine Vielzahl von Leitbündeln auf, die sehr weitlumig sind, denn die Pflanze muss den Saft in erhebliche Höhe transportieren und den Stützbaum durchranken, um ans Licht zu kommen. Die Borke blättert bei älteren Trieben in Längsstreifen ab, was ungewöhnlich ist und als Streifenborke bezeichnet wird. Wegen der weitlumigen Gefäße rauchen „Jugendliche im kritischen Alter“ kurze trockene Triebstücke der Waldrebe gelegentlich wie eine Zigarre. Das verursacht wenig Genuss, aber erheblichen Husten. Intensives Rauchen führt sogar zu Leibschmerzen und Durchfall.
Funde in Pfahlbausiedlungen deuten darauf hin, dass die Menschen die Waldrebe sehr früh in Kultur genommen haben möglicherweise zur Begrünung von Häusern oder zur Herstellung von Seilen.
Eine dichte Girlande der Waldrebe, die an Waldrändern oder über Buschwerk wächst, hat natürlich eine hervorragende Wirkung als Vogelschutzgehölz. Versuchsweise wird sie auch als Erosionsschutz und zur Befestigung steiniger Hänge eingesetzt. Heute dient sie oft als Pfropfunterlage für die gärtnerisch interessanten, großblütigen und gartenwürdigen Sorten. In den alpinen Zwergstrauchheiden an der Grenze von Wald und Almwiesen rankt zwischen den Alpenrosen die Alpenrebe, die unschwer als Clematis zu erkennen ist.
zuletzt bearbeitet am 10.VIII.2019