18. Juni 2020

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Von Blumen, die der Sonne folgen

 Karl Josef Strank

Es dauert nicht mehr lange, dann ereignet sie sich, die Sonnenwende. Das Jahr überschreitet seinen lichten Höhepunkt und die Tage werden von nun an wieder kürzer, die Nächte länger. Auf der Südhalbkugel der Erde ereignet sich die Sonnenwende mit umgekehrten Vorzeichen.

Einige Pflanzennamen nehmen darauf Bezug und im Capitulare de villis ist „solsequia“ verzeichnet. Im Wortsinn muss es sich also um eine Pflanze handeln, die der Sonne folgt. Sogleich kommt einem die Sonnenblume in den Sinn, die ja mit ihren Blütenköpfen der Sonne in ihrem Tageslauf folgt. Sie kann aber mit solsequia im Capitulare nicht gemeint sein, denn zu Zeiten Karls des Großen war sie in Europa nicht bekannt. Vielleicht kommt die Ringelblume, Calendula officinalis, in Frage, eine altbekannte und -bewährte Heilpflanze unserer Breiten. Den Namen zielgenau trifft aber eine andere, Heliotropium europaeum, die Europäische Sonnenwende.

Die Gattung Heliotropium (altgr. für solsequia) umfasst etwa 220 Arten, einzig die Europäische Sonnenwende ist in Deutschland heimisch. Sie liebt ausgesprochen warme Standorte und kommt nur noch im Nahegebiet und am Mittelrhein vor. Als Kulturfolger ist sie durch die althergebrachten landwirtschaftlichen Praktiken bis zu uns vorgedrungen. Das einjährige Rauhblattgewächs ist dicht behaart und wird kaum 30 Zentimeter hoch. Es ist vom Grund an reich verzweigt. Die bis vier Millimeter großen fünfzähligen Blüten sind streng zweireihig in dichten Wickeln angeordnet, die an der Spitze auffällig eingerollt sind und sich erst im Laufe der Blütezeit beziehungsweise der Fruchtreife strecken. Die Kelchblätter sind wie die Kronblätter am Grund zu einer kurzen Röhre verwachsen. Die Blütenkrone ist weiß oder leicht bläulich mit gelblichem Schlund. Die Staubblätter sind innen an der Blütenröhre angewachsen. Die Frucht bilden vier dunkelbraune Nüsschen mit grobwarziger Oberfläche.

Die auffälligen Gestaltmerkmale machen die Sonnenwende interessant und zu einem klassischen Beispiel für die Signaturenlehre des Mittelalters. Nach dieser verstand man ins Auge fallende Merkmale von Pflanzen als Zeichen, die auf die heilsamen Wirkungen der Art hinweisen. Die länglichen, an der Spitze eingerollten Blütenstände wurden als Hinterleib von Skorpionen interpretiert. Demzufolge schrieb schon Dioskorides der Sonnenwende eine Wirkung gegen Skorpionstiche, Schlangenbisse und gegen Krebs zu. Aus der Vierzahl der Nüsschen folgerte Dioskorides eine Wirksamkeit gegen das „Quartanfieber“ (Malaria quartana). Drei Nüsschen sollten logischerweise gegen Malaria tertiana helfen. Aus der Oberflächenstruktur der Nüsschen wurde eine Wirkung gegen Warzen abgeleitet. Außerdem wurde das bitter schmeckende Kraut als Wundmittel und als Abführmittel verwendet.

Der anerkannten Autorität eines Dioskorides folgend muss man annehmen, dass die Sonnenwende bis in die Neuzeit offizinell als gebräuchliches Heilmittel galt. Aus Samenfunden bei archäologischen Ausgrabungen weiß man, dass das seit der Römerzeit der Fall war. Unglaubliches und Magisches berichtet Anton von Perger in den Pflanzensagen: „Sie heißt am Unterrhein noch immer Gödeskraut, vertreibt den Krebs, Warzen, Skorpione und vernichtet die Fruchtbarkeit der Frauen. Befeuchtete man den Stein Heliotrop mit dem Kraut Heliotropium und band ihn auf die Stirne, so wurde man unsichtbar. Die Hexen gebrauchten diese Pflanze zu ihrer Salbe.“

Alle der Sonnenwende zugeschriebenen Heilwirkungen hielten einer modernen wissenschaftlichen Prüfung nicht stand, im Gegenteil, sie muss sogar als Giftpflanze bezeichnet werden. Die enthaltenen Alkaloide werden als Lebergift eingestuft und können Krebs auslösen und nicht heilen. Dennoch bereichert die Sonnenwende unsere Flora und ihr Fortbestand in Deutschland ist heute gefährdet.

 

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zuletzt bearbeitet am 9.VII.2020