23. Juli 2020

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Wo der Löwenzahn die Teerdecke sprengt

 Karl Josef Strank

Vorgärten machen oft einen bescheidenen Eindruck. Weil Pflanzen gelegentlich der Pflege bedürfen und im Herbst Laub, Stängel, Früchte und sonstiges Pflanzenmaterial anfallen, haben Holzhäcksel, Mulch, Schotter und jegliche Art von Gestein Einzug gehalten. Diese modernen Steingärten frönen dem Minimalismus, sie sind das krasse Gegenteil eines von Formen und Farben überquellenden, grünen Gartens.

Die Minimalgärten sind schon mal mit immergrünen Säulenbüschen und geschnittenen Buchsbäumen designed. Diese moderne nüchterne Ästhetik ist leblos und auf die Dauer trist und langweilig. Viele sind der Meinung, dass diese Art Garten ein Minimum an Arbeit erfordert. Zur Vorbeugung wird der Boden mit Folie abgedeckt, was die Durchwurzelung und das Aufkommen von Unkräutern verhindern soll. Aber Staub und Unkrautsamen gelangen überall hin. Es ist ein Gesetz der Natur: Selbst frisch aus dem Meer aufgestiegene Vulkaninseln werden nach kurzer Zeit besiedelt. Pioniere sind Sporenpflanzen, Algen, Pilze, Flechten, Moose, Farne, die den Boden für die höheren Pflanzen vorbereiten. Es ist also nicht zu vermeiden, dass in einem derart sterilen Steingarten dennoch irgendwann Kräuter keimen. Diesen begegnet man mit dem Einsatz von Herbiziden, weil zeitsparend und einfach.

Ökologisch sind derartige Gärten, die diesen Namen eigentlich nicht verdienen, wertlos, ja sogar kontraproduktiv. Die Masse an Stein trägt zur Versiegelung bei und heizt das Mikroklima auf. Der Einsatz von Unkrautbekämpfungsmitteln trägt zudem noch Giftstoffe ein. Dabei sollen Gärten in bebauten Arealen Wasser speichern, kühlen und für frische Luft sorgen.

Echte Steingärten par excellence gibt es in den Alpen. Geröllhalden machen aus der Ferne betrachtet einen vegetationslosen Eindruck, nichts als Steine, große und kleine, die sich in den Schutthalden unterhalb der Gipfel nach der Schwerkraft sortieren. Die dicksten Brocken landen oft im Tal. Kommt man den Schuttbergen näher, stellt man fest, dass hier doch eine Fülle hochspezialisierter Pflanzen wachsen.

Alle bleiben sehr klein im Wuchs und schmiegen sich dem Untergrund an. Sie halten extreme Standortbedingungen aus: wenig Feinerde, hohe Temperaturschwankungen sowie extreme UV-Strahlung. Und sie müssen mit dem Umstand klarkommen, dass sich der Untergrund gelegentlich in Bewegung setzt, sprich talwärts wandert. Hierfür haben die Pflanzen verschiedene Strategien entwickelt.

Schuttwanderer bilden lange Kriechtriebe, die sich wieder bewurzeln: Rundblättriges Hellerkraut, Zwerg-Glockenblume, Schildblättriger Ampfer, Kriechende Nelkenwurz, Berg-Baldrian.

Schuttüberkriecher legen sich mit schlaffen Trieben über den Schutt: Alpen-Leinkraut, Zweiblütiges Sandkraut, Alpen-Gänsekresse.

Schuttstrecker arbeiten sich mit verlängerten, starken Trieben durch die Schuttdecke: Alpen-Säuerling, Gämswurz, Zerbrechlicher Blasenfarn, Krauser Rollfarn.

Schuttdecker wurzeln auf und bedecken den Schutt: Silberwurz, Teppich-Schleierkraut, Gegenblättriger Steinbrech, Rudolphs Steinbrech.

Schuttstauer bilden feinwurzelige Polster und schaffen ruhende Inseln: Gletscher-Hahnenfuß, Berg-Löwenzahn, Alpen-Mannstreu, Alpen-Gämskresse, Polster-Segge, Alpen-Rispengras. Diese Alpenpflanzen und Fettkräuter, die ihr eigenes Wasser speichern, liefern den Grundbestand für echte Steingärten.

Brachen und versiegelte Flächen werden von der Natur unweigerlich zurückerobert. Pflanzen sprießen aus jeder Ritze. Mir bleibt das Bild in Erinnerung aus der Sendung mit Peter Lustig, wo der Löwenzahn die Teerdecke sprengt, Blätter schiebt und blüht.

Die Alternative zum leblosen Steingarten ist der üppig, dicht mit Stauden, Büschen und Gehölzen gepflanzte Pflanzendschungel. Unkräuter haben da keine Chance. Es will aber gut überlegt sein, welche Pflanze im Beet wo ihren Platz hat. Gärten machen immer Arbeit. Leidenschaftliche Gärtner und Gärtnerinnen nehmen das gerne in Kauf und finden bei dieser oft mühsamen Tätigkeit Freude und Zufriedenheit.

 

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zuletzt bearbeitet am 2.VIII.2020