21. Juli 2022

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Die rosa Nachtkerze – eine tödliche Schönheit

 Roland Schulze-Röbbecke

Haben Sie schon einmal ein Taubenschwänzchen gesehen, einen Schmetterling, der wie ein Kolibri mit schnellen Flügelschlägen vor einer Blüte in der Luft schwirrt und mit unglaublicher Präzision seinen langen, dünnen Saugrüssel in die Blüte einführt, um ihren Nektar zu trinken? Macroglossum stellatarum heißt der in Süd- und Westeuropa bis Ostasien heimische Falter mit wissenschaftlichem Namen. Ende Juni bis Anfang September erscheint er auch bei uns. Mit einer Flügelspannweite von 4-5 cm unternimmt er im Sommer Wanderflüge von mehreren 1000 km bis nach Nordskandinavien und Island. Um seinen hohen Energieverbrauch zu decken, muss er täglich mehr als sein eigenes Körpergewicht an Blütennektar aufnehmen.

Gestern trübte sich jedoch meine Freude, als von unseren rosa Nachtkerzen ein lautes Flattern kam und ich ein Taubenschwänzchen sah, das vergeblich versuchte, einer Blüte zu entkommen. Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass der Falter sein Saugorgan nicht aus der langen Blütenröhre herausziehen konnte, obwohl er sich mit den Beinen gegen die Blüte stemmte und kräftig mit den Flügeln schlug. Nach etwa 10 Minuten war das Tier sichtlich ermattet und bewegte sich kaum noch. Ich pflückte es samt Blüte von der Pflanze und riss die Blütenröhre vorsichtig der Länge nach auf. Dadurch kam der Saugrüssel frei und konnte der Falter davon schwirren. Seitdem beobachte ich unsere rosa Nachtkerzen mit Argwohn. Heute musste ich erneut ein Taubenschwänzchen retten, während es einem zweiten nach einigen Minuten gelang, sich selbst zu befreien.

Im Internet fand ich, dass meine Beobachtung nicht neu ist. So veröffentlichten bulgarische Botaniker*innen 2018 einen wissenschaftlichen Artikel über die Frage, warum so viele Taubenschwänzchen an den Blüten der rosa Nachtkerze verenden (https://doi.org/10.1007/s11829-017-9588-3). Nach ihren Angaben ist die Blütenröhre dieser Pflanze innen mit starren, nach unten gerichteten Härchen ausgekleidet, die es dem Falter problemlos erlauben, seinen Rüssel einzuführen, ihn beim Herausziehen aber „einklemmen“. Andere Falter hätten ähnliche Probleme, würden es aber immer schaffen, den Blüten ohne fremde Hilfe zu entkommen. Im selben Jahr beschrieben Udo Steinhäuser und Dieter Martin in der Zeitschrift „Virgo“, dass auch einige aus Mittel- und Südamerika stammende und bei uns wegen ihrer duftenden Blüten beliebte Kletterpflanzen aus der Familie der Hundsgiftgewächse zur tödlichen Taubenschwanzfalle werden können. Namentlich nennen sie Mandevilla sanderi („Dipladenia“) und Araujia sericifera. Letztere ist auch als „Folterpflanze“ und im Englischen als „cruel vine“ bekannt.

Die Beobachtung wirft einmal mehr die Frage auf, ob es richtig ist, fremde Pflanzen und Tiere bedenkenlos in bestehende Naturräume einzuführen. Dabei sollte uns klar sein, wie viele unserer Nutzpflanzen (z.B. Kartoffel, Gartenbohne), Wildpflanzen (z.B. Klatschmohn, Kornrade) und Zierpflanzen (z.B. Schneeglöckchen, Rhododendron) aus anderen Gegenden stammen und hier längst als Teil der heimischen Pflanzenwelt empfunden werden. Diesen Prozess können wir kaum aufhalten oder gar rückgängig machen. Dennoch könnten wir sicherlich auf die Anschaffung bestimmter Zierpflanzen verzichten, auf die unsere Insekten nicht eingestellt sind.


 

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zuletzt bearbeitet am 1.VIII.2022