27. Okt. 2022

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Alte Bäume als Lebensraum

 Karl Josef Strank

Bäume können sehr alt werden und je älter sie werden, umso wertvoller sind sie im ökologischen Sinn. Äste brechen aus, das Kernholz wird modrig, Spechte hämmern ihre Höhlen in den Stamm, die Rinde bricht auf, Saftfluss sickert aus, Totholz entsteht im Kronenbereich und Pilze werden am Stamm sichtbar. Ökonomisch sind diese Bäume wertlos, denn das Holz lässt sich nicht als Bau- oder Möbelholz verkaufen. Ein bewirtschafteter Forst produziert Nutzholz und hat in der Regel solche Bäume nicht, denn sie werden vorzeitig abgeräumt. Ein über Jahre ohne menschliche Eingriffe gewachsener Wald, der im Gegensatz zu einer Holzplantage diesen Namen wirklich verdient, hat viele solcher Bäume, er lebt geradezu von ihnen. Sie bieten die Strukturen, die einer Vielzahl von Lebewesen den Lebensraum, den sie benötigen, zur Verfügung stellen. Sie werden daher zu Recht als Biotopbäume bezeichnet.

Alte hohe Bäume mit geeigneten Astgabeln starker Äste ermöglichen es Greifvögeln, ihre Horste zu bauen. Auch der Schwarzstorch braucht kräftige alte Bäume in ruhiger Lage, um sein Brutgeschäft erfolgreich zu absolvieren. Spechte, die Zimmerleute des Waldes, sind mit mehreren Arten vertreten und bauen unterschiedlich große Baumhöhlen. Da sie immer wieder neue Höhlen hacken, finden die alten zahlreiche Nachmieter vor allem, wenn im Innern das Holz weiter verrottet und das „Wohnraumangebot“ sich vergrößert. Eulen und Fledermäuse rücken nach. Letztere begnügen sich aber auch mit Spalten und Rissen, die sie unter der Rinde finden. Im Winter suchen Fledermäuse frostsichere Speicher, Höhlen oder aufgelassene Bergwerksstollen auf, im Sommer reichen ihnen Rindentaschen. Der Baumläufer, ein kleiner Vogel mit Pinzettenschnabel, ernährt sich von Kleininsekten und sucht unermüdlich die rissige Rinde der Bäume ab. In schmalen Ritzen baut er sein Nest und sorgt für Nachwuchs.

Bäume sind die Unterlage für viele Aufsitzer (Epiphythen). Riesige Urwaldbäume bilden mit Farnen, Orchideen und Bromelien regelrechte „Kronengärten“ aus. In unseren Breiten sind es häufig Moose, Farne und vor allem Flechten, die Bäume als Unterlage nutzen. Verschiedene Moose besiedeln die Rinde von Bäumen, bevorzugt auf der feuchten Wetterseite. Sammelt sich in Astgabeln oder Astausbrüchen Humus, können dort auch Farne gedeihen. Regelmäßig werden Bäume bei genügend Feuchtigkeit und sauberer Luft von einer Vielzahl von Krusten-, Blatt- und Strauchflechten besiedelt. Dieser mitunter dichte Pelz schadet den Bäumen nicht. In regenreichen und feuchten Lagen ist er normal. Die Rinde mit Bürsten zu putzen und den Baum zu reinigen, macht keinen Sinn. Moose und Flechten bilden den Lebensraum für eine Vielzahl von Kleinstlebewesen, Algen, Protozoen, Wurzelfüßer, Spinnen, Würmer, Kleinkrebse, Springschwänze, Milben und so weiter und so weiter, die wir in der Regel wegen ihrer Kleinheit gar nicht wahrnehmen. Sie bilden aber die breite Grundlage des Nahrungsnetzes für alle höheren Organismen.

Das im Innern alter Bäume per Definition „verfaulte, getrocknete und zu Pulver zerfallene Holz“, der Mulm, ist ein besonderer Lebensraum. Der Eremit (auch als Juchtenkäfer bekannt) und der Marmorierte Rosenkäfer leben in den Mulmhöhlen dieser Bäume und verlassen sie fast nie. Ihre Larven entwickeln sich dort über mehrere Jahre. Das Außenskelett der Käfer besteht aus Chitin. Die Substanz erhält sich über Jahre im Mulm. Schwarz-metallische Fragmente deuten auf eine Besiedlung durch den Eremiten und bräunliche bis grünliche durch den Marmorierten Rosenkäfer.

Ganz besondere strukturelle Nischen sind die Dendrotelmen, temporäre Wasserpfützen, die sich in Zwieseln, Astausbrüchen, tiefen Baumhöhlen oder in Vertiefungen zwischen Stockausschlägen erhalten. Diese liefern die Kinderstube für Maden einer speziellen Fliegenart, der Totenkopf-Schwebfliege. Schwebfliegen können in der Luft stehen wie Hubschrauber und blitzschnelle Flugmanöver durchführen. Neben Bienen sind sie die wichtigsten Blütenbestäuber. Ein Drittel der Arten ist vom Aussterben bedroht, weil ihr Lebensraum – unaufgeräumte Wälder mit alten Bäumen, Totholz, Mulmhöhlen, Baumpfützen – schwindet.

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zuletzt bearbeitet am 11.XI.2022