22. Juni 2023
NATURBEOBACHTER AUS DER REGION
Kommen Sie mit auf einen Spaziergang am Senserbach
Roland Schulze-Röbbecke
Geht man vom Dreiländereck an der deutsch-niederländischen Grenze bergab, stößt man nach knapp 3km, kurz nach Überqueren der Vaalser Straße, auf den Senserbach (niederländisch Selzerbeek). Dieser entspringt in den darüber gelegenen Wiesen und bildet dann auf einer Strecke von ca. 4,5km die deutsch-niederländische Grenze. Danach fließt er noch ein paar Kilometer durch niederländisches Gebiet, um bei Wittem in die Göhl (nl. Geul) zu münden.
Mitte Mai zog ich mir Schuhe und Socken aus, um ein paar Schritte durch den Grenzbach zu waten und nachzusehen, was es darin zu entdecken gibt. Mein Vorhaben musste ich aber schnell abbrechen, denn die Steine im Bachbett waren so spitz und scharf, dass es schmerzte und ich Angst hatte, mir die Füße zu verletzen. Bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass das ganze Bachbett fast nur aus Feuersteinen besteht. Offenbar stammen sie aus dem Kalkgestein oberhalb des Senserbachs und wurden sie im Laufe der Jahrtausende vom Hang des zwischen Orsbach und dem Schneeberg gelegenen Höhenrückens ins Tal herab verlagert. Während die weichen Kalk- und Mergelsteine des Orsbacher Kalks zu Sand und Ton zerfielen und fortgespült wurden, blieben die ursprünglich im Kalkstein eingebetteten, harten Feuersteine im Bachbett liegen. Da sie großenteils zersplittert sind, haben sie bizarr-kantige Formen. Einige weisen ein natürlich entstandenes Loch auf und werden dann als „Hühnergott“ bezeichnet.
Ein „Hühnergott“ aus dem Senserbach: So nennt man Feuersteine wie diesen mit einem natürlich entstandenen Loch.
Feuersteinen begegnet man überall im Aachener Raum und im Süden der niederländischen Provinz Limburg. Auf dem Aachener Lousberg wurden sie in der Jungsteinzeit abgebaut und zu scharfen Klingen verarbeitet und im Maastrichter Sint Pietersberg zerstörten sie die Kettensägen, mit denen unter Tage der Kalkstein abgebaut wurde. Entstanden sind sie ähnlich wie bei den Kreidefelsen von Rügen und Dover im Kalkgestein der „Aachen-Limburger Kreidetafel“. Bis heute ist es allerdings ein geologisches Rätsel, welchen Prozessen genau die Feuersteinknollen und Hühnergötter ihre Entstehung im Kalkstein verdanken.
Beim Stöbern zwischen den Feuersteinen zeigten sich zunächst nur die in Bächen üblichen Insektenlarven und Würmer. Bald wurde ich aber auf ein etwa 15 cm langes schlangenähnliches Tier aufmerksam, das sich offenbar mit dem Mund an einem Stein festhielt und sich dabei lebhaft schlängelte. Als ich nahe heran ging und die Augen des Tieres sah und die sieben dahinter liegenden runden Kiemenöffnungen, war mir klar, dass es nur ein Neunauge sein konnte, ein urtümliches, flossenloses Wirbeltier, ein „lebendes Fossil“, weder Fisch noch Schlange, dessen Vorfahren in fast unveränderter Form schon lange existierten, bevor es auf der Erde Schlangen gab und bevor die Feuersteine entstanden, an denen sich das hier zappelnde Exemplar festhielt. Von der Seite betrachtet könnte man die eigentlichen Augen zusammen mit der Nasenöffnung davor und den sieben Kiemenöffnungen dahinter für Augen halten daher der Name „Neunauge“.
Das hier beobachtete Bachneunauge verbringt seine Jugendzeit im Sediment langsam fließender Bachabschnitte und ernährt sich dann von vorbeischwimmenden, zerfallenden Pflanzenresten. Als erwachsene Tiere stellen sie die Ernährung ein und interessieren sich nur noch für ihre Fortpflanzung. Im Gegensatz zu ihren größeren Verwandten den Fluss- und Meeresneunaugen unternehmen die Bachneunaugen keine großen Wanderungen und parasitieren sie nicht an größeren Fischen.
Die Begegnung mit dem Bachneunauge kam unerwartet, denn diese Tiere lieben sauberes, klares Wasser. An seiner Trübung und Farbe merkt man, dass der Senserbach mit gewissen Mengen an Nährstoffen verunreinigt ist, wahrscheinlich aus den Düngemitteln, die auf die angrenzenden Wiesen und Felder ausgebracht werden. Der Bachlauf ist aber zumindest bis Lemiers weitgehend natürlich und sein Wasser enthält genug Sauerstoff, dass Neunaugen, Fische und Amphibien darin leben können.
zuletzt bearbeitet am 2.VII.2023