13. Juli 2023

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Madonnenlilie

 Ruth Gestrich-Schmitz

Lilien adeln mit ihren edlen Blüten und ihrem betörenden Duft jeden Garten, und das schon seit langer Zeit. „Leuchtende Lilien, wie soll im Vers und wie soll im Liede / Würdig euch preisen die dürftige Kunst meiner nüchternen Muse? / Euer schimmerndes Weiß ist Widerschein schneeigen Glanzes, / Holder Geruch der Blüte gemahnt an die Wälder von Saba“, besingt im 9. Jahrhundert Walahfrid Strabo, der Abt des Klosters Reichenau, in seinem Lehrgedicht „Hortulus“ die Lilie. Lilien strahlen mit solch majestätischer Schönheit, wie man sie sonst nur Rose und Lotos zuschreibt. Die makellose Textur und die feine Glätte der Blütenblätter vergleicht Strabo mit dem für seine Reinheit und Transparenz berühmten Marmor von der griechischen Insel Paros.

Die Madonnenlilie (Lilium candidum) mit ihren rein weißen Blüten gilt als die klassische Lilie. Sie ist ausdauernd und verfügt über eine charakteristische weiße Schuppenzwiebel, in deren Schuppenblättern sie Nährstoffe speichert. Sie stammt aus dem östlichen Mittelmeergebiet, liebt geschützte, sonnige Standorte und wächst auf neutralem bis kalkhaltigem Boden. Bei uns ist sie nur als Kulturpflanze bekannt, ihre wilden Schwestern sind Türkenbund und Feuerlilie.

Im Herbst treibt die Madonnenlilie eine Rosette grundständiger, hellgrüner Blätter, mit denen sie den Winter überdauert. Im Frühjahr schiebt sich aus der Zwiebel ein bis zu 1,50 Meter hoher Spross mit spiralig angeordneten Blättern, der im Juni/Juli eine Traube mit bis zu zwanzig weißen, duftenden, trompetenförmigen, fünf bis acht Zentimeter langen Blüten mit je sechs Kronblättern entfaltet. Die leuchtend gelben Staubbeutel auf langen, weißen Staubfäden umgeben den herausragenden, keulenförmigen Griffel. Aphrodite, die griechische Göttin der Schönheit, der Liebe und der sinnlichen Begierde, soll sich derart über die Makellosigkeit der Lilienblüte geärgert haben, dass sie ihr diesen großen Griffel eingepflanzt hat, der an den Phallus eines brünstigen Esels erinnert. Nach der Fruchtbildung zieht die Pflanze für kurze Zeit alle oberirdischen Teile ein, bevor sie im Herbst wieder eine Blattrosette ausbildet.

Die Madonnenlilie gehört zu den ältesten kultivierten Zierpflanzen. Liliendarstellungen finden sich bereits auf Wandfresken des minoischen Palastes von Knossos auf Kreta. Auf späten, vorchristlichen ägyptischen Reliefs sind Frauen dargestellt, die Lilienblüten ernten und zur Duftstoffgewinnung auspressen. Mit ihren makellosen weißen Trichterblüten gilt Lilium candidum als Symbol für Reinheit und Keuschheit. Die keusche Susanna (von hebräisch Shushan, bedeutet Lilie) aus der Bibel sehen viele als Vorbild für die Unberührtheit der Gottesmutter Maria. Im Mittelalter wurde die Madonnenlilie im Christentum dann zum Attribut von Maria. Als der Erzengel Gabriel Maria verkündet, dass sie erwählt sei, Gottes Sohn zu gebären, hält er einen Lilienstängel in der Hand, so dargestellt von Leonardo da Vinci (um 1475).

Medizinisch wurde die Madonnenlilie bei den Ägyptern und den Römern bei Frauenleiden und Hautproblemen wie Brandwunden, Geschwüren, Schwellungen und Insektenstichen angewendet. Hildegard von Bingen empfahl sie gegen Nesselsucht und andere Hautausschläge. In der Pflanzenliste der Landgüterverordnung Karls des Großen ist sie die Nummer eins. Vermutlich wurde sie aber vor allem wegen ihrer Schönheit und ihres Duftes in den Kräutergärten angepflanzt. Der Duft einer Pflanze war für die Menschen im Mittelalter genauso wichtig wie die medizinische Wirkung. Man war der Auffassung, dass dadurch der Genesungsprozess unterstützt wurde. So sah es auch Hildegard von Bingen, die dem Duft der frischen Blüten eine psychogene Wirkung zuschrieb: Er stimme das Herz des Menschen fröhlich.

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zuletzt bearbeitet am 13.VIII.2023