21. Sept. 2023

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Trockenmauern: Wo Steine, Pflanzen und Tierwelt sich verlieben

 Richard Zimmermann

Ein gewisser Standard oder Luxus ist für uns völlig normal. Und dazu gehört eben nun mal das Dach über dem Kopf. Das ist eines der Dinge, das wir mit unseren Vorfahren gemeinsam haben. Es stellt ein Grundbedürfnis dar und war schon seit jeher wichtig und hat vermutlich auch unser Überleben gesichert.

Seit der Sesshaftigkeit des Menschen wurden erste Hütten aus Materialien gebaut, die sich in unmittelbarer Umgebung fanden. Selbstverständlich ist demnach naheliegend, dass die häufigsten frühzeitlichen Bauwerke aus Holz und Naturstoffen bestanden. Aber auch Steine wurden verwendet. Bindemittel oder Klebstoffe wie beispielsweise Zement, das heute als erhebliche Umweltsünde bekannt ist, gibt es zwar schon sehr viele tausend Jahre in ähnlicher Form, allerdings nicht als Massenware. Erste Gemäuer bestanden demnach nicht aus Steinen, die mit Bindemitteln zusammengefügt waren. Mauern und Rundhütten wurden in steinreichen Gebieten gestapelt und nicht verklebt. Und genau das ist das große Geheimnis der Trockenmauern, die ihren Namen auch genau daher verdanken. Denn Bindemittel müssen mit Wasser angerührt werden und ohne bleiben sie eben trocken.

Trockenmauern kommen also völlig ohne irgendeine Art von Bindemitteln aus. Selbstverständlich erkannten das unsere Vorfahren auch schon. Sie stapelten mit höchster Präzision und sehr mühevoll Steine aus der Umgebung so aufeinander, dass sie teilweise bis heute noch erhalten blieben.

Es scheint fast unmöglich und ist daher besonders faszinierend, da das wahllose Stapeln von Steinen schnell zum Einsturz führt. Ein präzises Stapeln hingegen, bei dem jeder einzelne Stein ganz sorgsam für seinen zukünftigen Platz ausgewählt wird, als wäre er dafür geboren, führt zu einer ewigen Haltbarkeit. Es klingt auf Anhieb superleicht, so eine Mauer herzustellen. Stein auf Stein und hoffen, dass es stehen bleibt. Tatsächlich ist das aber eine Kunst für sich. Und deshalb haben Menschen, die darauf spezialisiert sind, bereits ein Auge dafür entwickelt. Es erfordert eine enorme Präzision und Expertise, welche Steine am besten wo eingebracht werden. Ein sicheres Fundament ist für die Stabilität entscheidend. Und das Ganze soll ja schließlich auch noch gut aussehen!

Das Bauen ist also an sich eine spannende Angelegenheit. Allerdings ist noch mehr entscheidend. Beispielsweise der Standort. Wenn Trockenmauern Sonne lieben könnten, dann würden sie dies tun. In Wirklichkeit lieben Pflanzen und Tiere, die auf und in Trockenmauern leben, die Wärme der Sonne und der aufgeheizten Steine. Andererseits sammelt sich auch Wasser und Feuchtigkeit auf der Schattenseite innerhalb der Mauer. Die durch ein Puzzlespiel gebaute Mauer ist wahrlich ein wunderbares und einzigartiges Ökosystem, in dem sich vor allem Eidechsen gerne in den Ritzen verstecken und von der Sonne küssen lassen.

Ja, Trockenmauern zu bauen ist harte Arbeit, aber das Ergebnis ist es wert. Die Belohnung: ein Stück Natur, das lebt und atmet. Diese Mauern sind nicht nur schön anzusehen, sondern auch nützlich. Sie können Erosion verhindern, Terrassen schaffen und sogar als Lebensraum für nützliche Insekten dienen. Klassische Mauern mit Bindemitteln hingegen bieten keinen Mehrwert, weder für Pflanzen noch Tier, denn die Ritzen und Spalten können nicht genutzt werden.

Von Eidechsen über Laufkäfer, Kröten und Spitzmäusen, die alle samt als Nützlinge im Garten angesehen werden, sind auch andere kleine Lebewesen und Insekten im Lebensraum oder auch Rückzugsort Trockenmauer daheim. Und Pflanzen? Nun, sie sind die wahre Schönheit dieser Mauern. Von Moosen über Farne bis hin zu winzigen Blümchen – Trockenmauern sind wie vertikale Gärten, die mitten in der Natur erblühen.

Trockenmauern sind ein Beispiel dafür, wie Mensch und Natur auf harmonische Weise zusammenarbeiten können. Sie sind nicht nur funktionale Bauwerke, sondern auch Kunstwerke und Lebensräume. Also beim nächsten Vorbeigehen an einer Trockenmauer unbedingt einen Moment Zeit nehmen, um die Steine, Pflanzen und Tierwelt zu bewundern. Es gibt mehr in diesen Mauern, als man auf den ersten Blick sieht. Sie sind ein kleines Wunderwerk der Natur und der menschlichen Kreativität. Tausendmal ökologischer, umweltfreundlicher und sogar schöner als übliche Mauern mit Bindemitteln.

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zuletzt bearbeitet am 1.X.2023