9. Juli 2020

NATURBEOBACHTER AUS DER REGION


Ein Käfer und sein Gift, das heilen oder töten kann

 Ruth Gestrich-Schmitz

Jetzt, im Sommer, schwirrt eine Vielzahl von Käfern durch die Luft. Was macht aber ein Käfer, der nicht fliegen kann, wie der Ölkäfer mit seinen stark verkürzten Flügeldecken und ohne Hinterflügel?

Der Schwarzblaue Ölkäfer (Meloe proscarabaeus), zum Insekt des Jahres 2020 gekürt, hat eineungewöhnliche Lebensweise. Sein Vorkommen ist abhängig vom Vorhandensein von Wildbienen, die er für seine Vermehrung braucht. Im April und Mai kann man die bis zu dreieinhalb Zentimeter langen Tiere auf Trockenrasen, in Sand- und Kiesgruben, an Acker- und Waldrändern, auf Wiesen, Weiden und Flussauen beobachten, wie sie schwerfällig über den Boden krabbeln und sich von Bärlauch, Scharbockskraut, Buschwindröschen und anderen Blütenpflanzen ernähren. Nach der Paarung legt das Weibchen, dessen Hinterleib von der großen Menge an Eiern – bis zu neuntausendfünfhundert können es sein – aufgedunsen ist, diese drei bis fünf Zentimeter tief in den Boden ab. Das kann im Abstand von ein bis zwei Wochen fünf- bis sechs Mal erfolgen. Aus den Eiern schlüpfen im folgenden Jahr orangegelbe Triungulinus-Larven, deren Beine jeweils mit drei Fußklauen versehen sind. Die Larven klettern auf Blüten und warten dort auf ihre Transportwirte, solitär lebende bodennistende Wildbienen wie Sand-, Pelz, Langhorn-, Furchen- und Seidenbienen, an denen sie sich mit den Klauen und den Mundwerkzeugen (Mandibeln) festklammern. Haben sie den richtigen Wirt und nicht ein anderes blütenbesuchendes Insekt erwischt, geht die Reise los zum Bienen-Nest. Diese Transportweise wird Phoresie genannt.

Erreicht die Larve ein Bienen-Ei, frisst sie dieses auf und häutet sich zu einer kurzbeinigen, blinden, madenartigen Sekundärlarve. Sie ernährt sich vom Pollen-Nektar-Brei, den die Wildbiene für die Entwicklung ihres Nachwuchses ins Nest gebracht hatte. Die Larve häutet sich dreimal, bevor sie das Nest verlässt und sich im Boden eine kleine Höhlung gräbt. Dort erfolgt die Häutung zu einer Scheinpuppe. Sie überwintert dort, ohne Nahrung aufzunehmen. Im Frühling schlüpft aus der Scheinpuppe eine Tertiärlarve, dann erst folgt die eigentliche Verpuppung. Von März bis Ende April schlüpfen in Mitteleuropa die Käfer, deren Lebensdauer etwa einen Monat beträgt. Dieser komplizierte Vermehrungszyklus der Ölkäfer wird als Hypermetamorphose bezeichnet. Man kann sich gut vorstellen, dass bei der zwei Jahre dauernden hochspezialisierten Entwicklung viele Störungen auftreten können und deshalb das Weibchen so immens viele Eier ablegt. Dass der Schwarzblaue Ölkäfer mittlerweile in Deutschland in der Roten Liste als gefährdete Art eingestuft ist, liegt insbesondere am Verlust seines Lebensraumes, der auch die Wildbienen betrifft.

Der Name Ölkäfer weist auf die öligen Tröpfchen hin, die zur Gefahrenabwehr aus den Poren an den Kniegelenken austreten. Den darin enthaltenen Stoff Cantharidin nutzte man bereits in der Antike als Heilmittel (unter anderem bei Haut- und Darmkrankheiten oder als wehenförderndes Mittel), als Aphrodisiakum und auf Grund seiner starken Toxizität als Mordgift. Cantharidin wird heute vor allem in der Hautreiztherapie sowie zur Warzenentfernung in Form von Cantharidenplastern eingesetzt, in der Homöopathie bei Verbrennungen.

Cantharidin gewinnt man in der Regel aus einer anderen Ölkäfer-Art, der Spanischen Fliege (Lytta vesicatoria). Bis heute werden auf Märkten im Mittelmeerraum gemahlene Spanische Fliegen als Potenzmittel angeboten. Da die Dosierung des Naturviagras äußerst schwierig ist, wird manch einer statt der erwarteten Liebesfreude starke Schmerzen erleben. Im schlimmsten Fall droht Impotenz. Ein einziger Käfer enthält schon eine für einen erwachsenen Menschen tödliche Dosis Cantharidin. Ölkäfer sollte man nicht anfassen. Das starke Reiz- und Nervengift kann äußerlich zu Hautnekrosen, innerlich zu Blutungen und Nierenversagen führen. Die Giftigkeit des Cantharidins nutzen manche Tierarten, die gegen das Gift immun sind, wie Vögel und Igel, indem sie Ölkäfer fressen und sich damit gegen Parasiten und Fressfeinde schützen.

 

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zuletzt bearbeitet am 2.VIII.2020